Fasten

Der Erdenschwere entkommen

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Umkehr (Teschuwa), Reue und Vergebung der Sünden stehen zu Jom Kippur im Zentrum dieses hohen jüdischen Feiertages.
Von seinem Ursprung lesen wir im 3. Buch Mose 16, 29–30: »Auch soll euch dies eine ewige Ordnung sein: Am zehnten Tage des siebenten Monats sollt ihr fasten und keine Arbeit tun, weder ein Einheimischer noch ein Fremdling unter euch. Denn an diesem Tage geschieht eure Entsühnung, dass ihr gereinigt werdet; von allen euren Sünden werdet ihr gereinigt vor dem Ewigen.«

Zu biblischer Zeit war die Feier des Versöhnungstages im Tempelkult verankert. Die religiösen Zeremonien an diesem Tag richteten sich auf die Reinheit des Tempels und auf die Reue des Volkes. Diese sprach der Hohepriester stellvertretend durch sein Gebet im Allerheiligsten vor Gott aus.

Alle Bräuche, die mit diesem Tag in unserer Zeit verbunden sind, bringen seine besondere Heiligkeit zum Ausdruck. In der Halacha trifft man auch auf die Bezeichnung Schabbat Schabbaton für Jom Kippur, der absolute Ruhetag, und den Namen Mikra’e Kodesch, der Tag der heiligen Schriften.

TESCHUWA Nach dem Gebot der Tora sind wir an Jom Kippur dazu verpflichtet, uns seelisch wie leiblich im Verzicht zu üben. Dazu gehört, dass man nicht isst und trinkt. Neben diesem strengen Fastengebot – von dem Schwerkranke, kleine Kinder und Wöchnerinnen ausgenommen sind – darf man sich nicht baden noch waschen, keine Kosmetika benutzen, sich keinen sexuellen Genuss gönnen und auch keine Lederschuhe tragen. Wenn jemand nicht fastet, obwohl er dazu in der Lage wäre, spricht er ein vernichtendes Urteil über sich. Er lehnt den Weg der Teschuwa ab.

Der Druck der Arbeitstage, der sonst
auf den Familien lastet, hat sich verflüchtigt.

Selbst bei den liberalen Juden, die sonst weniger strenge Gesetzesobservanz üben, wird die Heiligkeit dieses Tages beachtet, indem sie fasten, nicht arbeiten und die vorgeschriebenen Gebete sprechen. Jom Kippur hat in Israel – wie sonst kein Tag in der Praxis anderer Völker und Religionen – unübersehbare Auswirkungen im öffentlichen Leben.

Auf den Straßen fahren keine Autos, die Geschäfte bleiben geschlossen, man versammelt sich zahlreich in den Synagogen zu den Gottesdiensten. Der gewöhnliche Wochen- und Alltagsrhythmus ist unterbrochen. Der Druck der Arbeitstage, der sonst auf den Familien lastet, hat sich verflüchtigt. Alles vollzieht sich in gebremstem Tempo, in bedächtiger Atmosphäre, die Nerven kommen zur Ruhe. Dieser Tag ermöglicht es, ausgeglichen und entspannt zu sein.

Seine äußeren Gegebenheiten erleichtern uns in religiöser Hinsicht, dem eigentlichen Anliegen von Jom Kippur nachzukommen. Der Tag gibt uns die Chance zur Selbstprüfung vor dem Schöpfer. Ich frage mich: Wie sieht das hinter mir liegende Jahr und das beginnende im Angesicht Gottes aus? Kann ich mit meinem Verhalten vor meinen Mitmenschen und vor Ihm bestehen?

reue Dabei öffnet uns das leibliche wie seelische Fasten die Tür zur Reue. Rambam sagt, es bewirkt in uns die Kraft der Reue, dass wir uns auch laut vor Gott aussprechen: Ich habe vor dir gesündigt und mich auch sonst versündigt, aber ich schäme mich all dessen und bereue mein Fehlverhalten, ich verspreche, mich in Zukunft zu bessern. Ernsthafte Reue zu empfinden, ist wichtig, weil wir dadurch die Sünden wirklich als Sünden erkennen. Und so gleicht das Streben nach Umkehr einer seelischen Behandlung und Reinigung.

Allerdings ist der Mensch nicht immer in der Lage, seine Sünden offen und ehrlich zu artikulieren. Häufig hindert ihn sein eingefahrener und selbstgerechter Charakter daran, zu wahrer Selbsterkenntnis zu finden. Manches Mal rebelliert er gegen die von ihm selbst geschaffene Realität. Oft verschließen wir die Augen vor Tatsachen, die uns unangenehm sind.

Der in sich gehende Sünder trauert und erschrickt über das, was er verspielt hat.

Indem wir uns aber durch Fasten das Weglaufen vor uns selbst erschweren, kommt es leichter zur Reue. Sie lässt uns ein ungeschöntes Bild von uns selbst gewinnen. Wir lassen dann eher das Gewissen zu uns sprechen, das uns zur Umkehr treibt. Nicht zuletzt beinhaltet die Reue immer auch Trauer. Der in sich gehende Sünder trauert und erschrickt über das, was er verloren und verspielt hat an Vertrauen und gutem Charakter.

freiheit Nach jüdischer Vorstellung hat der Mensch die Freiheit zur Wahl zwischen dem Guten und Bösen. Auch ist der Sünder in der Lage, seinen Weg zu ändern. Er kann umkehren und sich bessern. Aber dieses Wissen für mein Leben auch praktisch werden zu lassen, ist etwas anderes. Häufig lebt der Mensch als ein Gefangener seiner Gewohnheiten.

Seinen Charakter zu ändern, gehört zum Schwierigsten. Jom Kippur ist der zentrale Tag, an dem Gott jedem reuigen Sünder Entsühnung und Vergebung gewährt. Von den Folgen seines Fehlverhaltens entbunden, kann der Mensch mit einem reinen und ruhigen Gewissen ins neue Jahr gehen.

Wir erleben es immer wieder: Der Versöhnungstag ist mit einer so besonderen, reinen und kraftvollen Atmosphäre aufgeladen, dass allein sie schon den Menschen entsühnen kann – vielleicht sogar ohne bewusst vollzogene Teschuwa. Nicht alle unsere Verfehlungen können uns präsent sein, doch das Bewusstsein unserer Schwäche, die uns in die Synagoge treibt, gehört bereits zur Teschuwa.

Das Fasten am 9. Aw und am 17. Tamus ist ein Zeichen der Trauer. Zu Jom Kippur fasten wir, um uns der Erdenschwere zu entziehen, den Engeln gleich, die keine körperlichen Bedürfnisse haben. So erreichen wir spirituelle und theologische Konzentration auf die uns bewegende und erneuernde Buße. Sie bringt Heilung in die Welt, in unser Leben und in das neue Jahr, denn sie erreicht den Thron der Herrlichkeit.

Der Autor ist Rabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Bamberg und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).

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