Wer sich für zeitgenössische Chasanut, also für Kantorengesang, interessiert, der hat sicher schon von Chaim Adler gehört. Dieser chassidische Chasan ist bekannt als »Oberkantor von Tel Aviv«, er ist einer der berühmtesten Kantoren unserer Zeit.
Als Papst Benedikt XVI. im August 2005 die Kölner Synagoge besuchte, wurde Adler aus Israel eingeflogen, um der festlichen Veranstaltung einen würdigen musikalischen Rahmen zu verleihen. In seiner kürzlich veröffentlichten Autobiografie beschreibt Adler das Geschehen im Kölner Bethaus und seinen kurzen Dialog mit dem Oberhaupt der katholischen Kirche.
KARRIERE In dem bilderreichen Buch schildert Adler (Jahrgang 1939), der ein ordinierter Rabbiner ist, die Stationen seiner internationalen Karriere. Ausführlich berichtet er von Begegnungen mit anderen großen Kantoren, deren Eigenart er treffend zu charakterisieren weiß.
An vielen Stellen der Autobiografie geht Chasan Adler auf sein Amtsverständnis ein. Seine Bemerkungen über die Aufgaben eines Kantors beleuchten Aspekte, die manchmal übersehen werden. So zum Beispiel, dass ein Kantor verschiedenen Aufgaben gleichzeitig gerecht werden muss. Natürlich erwartet eine Gemeinde von ihrem Chasan, dass er musikalisch begabt ist und eine gut ausgebildete Stimme hat. Aber Adler betont, dass ein guter Chasan mehr als nur ein Gesangskünstler sein sollte, vor allem wirke er als Botschafter, Wegweiser und Erzieher.
Eine Synagoge sei keine Konzerthalle, betont Chaim Adler.
Der Chasan ist ein Vertreter der Gemeinde (hebr.: Schaliach Zibbur) bei der Tefilla, dem Gebet. Nach Adlers Überzeugung ist der Chasan stets auch ein Vertreter des Allgegenwärtigen. Beim Vortrag der überlieferten Gebetstexte interpretiert der Chasan Passagen der Tefilla in einer angemessenen musikalischen Art und Weise, sodass die Herzen der Anwesenden tief bewegt werden.
TESCHUWA Durch eine wohldurchdachte Arbeit am Vorbeterpult vermag ein guter Chasan, Glaubensgenossen nicht nur auf eine höhere geistige Stufe zu bringen, sondern sogar zur Umkehr (hebr.: Teschuwa) zu bewegen. Ist dieses Ziel der Teschuwa wirklich erreichbar?
Adler erzählt folgende Anekdote: Seine Ehefrau, Shoshana, wurde einmal in der Großen Synagoge in Jerusalem, in der Adler als Chasan amtierte, von einer aufgeregten jungen Frau angesprochen, die nicht wusste, mit wem sie es zu tun hatte: »Haben Sie schon einmal einen solchen Chasan gehört? Ich nicht!« Bevor sie der jungen Dame verriet, dass sie die Gattin des gelobten Vorbeters sei, wollte sie von ihr wissen, woher sie Chasan Adler kenne.
Diese berichtete, sie sei zwar in einer religiösen Familie aufgewachsen, habe sich aber von den jüdischen Lebensformen entfernt. Dann habe sie eine Tefilla von Chasan Adler gehört, und dieses Erlebnis habe ihr Herz so erschüttert, dass sie beschloss, den Weg der Teschuwa zu gehen.
PERSÖNLICHKEIT Jüdische Beterinnen und Beter Gott näher zu bringen, ist eine Aufgabe, die viel Können und Anstrengung erfordert. Für jüngere Kollegen hat Adler daher einige hilfreiche Tipps zusammengestellt: So soll der Chasan den Worten der Tefilla die Priorität einräumen, nicht der musikalischen Virtuosität. Eine Synagoge sei keine Konzerthalle, betont er. Man könne durchaus glanzvolle Stücke anderer Chasanim übernehmen; die Kunst bestehe darin, nicht einfach den Gesang des Kollegen zu kopieren, sondern das Gebet gemäß der eigenen Persönlichkeit vorzutragen.
Musik spielt übrigens nicht nur im Bethaus eine wichtige Rolle, sondern auch am Esstisch observanter Familien. Man denke beispielsweise an Lieder (Semirot), die am Schabbattisch gesungen werden. Diese sorgen für eine heitere Stimmung, sie erfreuen das Herz der Anwesenden. Gesteigert wird die Freude am Gesang, wenn die Kantoren nicht nur verschiedene Melodien kennen, sondern auch mit dem Inhalt der Schabbatlieder vertraut sind. Deshalb sollte man im jüdischen Religionsunterricht sowohl zentrale Texte der Tefilla als auch die bekanntesten Semirot besprechen.
Chaim Adler: »HaChasan Haraschi« (hebr.). Zuf Hozaa Laor, Jerusalem 2022, 449 S., 100 NIS