Talmudisches

Der betrogene Mann

Der Mann hielt das Geheimis für sich, doch es machte ihm zu schaffen. Foto: Getty Images

Talmudisches

Der betrogene Mann

Vom Belauschen der Ehefrau

von Yizhak Ahren  19.03.2021 08:16 Uhr

Der Talmud erzählt davon, wie eine Frau nicht merkte, dass sie beim Ausplaudern ihrer Untaten belauscht wurde: »Einst hörte ein Mann seine Frau zu ihrer Tochter sprechen: ›Warum handelst du nicht diskret, wenn du etwas Verbotenes tust? Ich habe zehn Söhne, und nur einer ist von deinem Vater‹« (Baba Batra 58a).

Die Worte der Mutter sind eindeutig: Offensichtlich hat sie ihre Tochter zurechtgewiesen und ein Geständnis abgelegt. Gern wüssten wir, was die Angesprochene verbrochen hat.

Lazarus Goldschmidt, der Übersetzer des Talmuds ins Deutsche, meint, die Tochter habe genauso wie ihre Mutter die Ehe gebrochen. Goldschmidts Annahme mag richtig sein, vielleicht aber auch nicht. Denn die Zurechtgewiesene war, wie die israelische Schriftstellerin Yaara Inbar in ihrer Interpretation unseres Textes bemerkt, vielleicht noch gar nicht verheiratet. Es kann durchaus vorkommen, dass eine Junggesellin ein Gebot der Sittlichkeit übertritt.

Geständnis Vom Geständnis der Mutter war die Tochter sicher überrascht. Auch wir staunen: Warum verrät die Frau ihr dunkles Geheimnis? Sollte diese Mitteilung der Tochter beweisen, dass die Mutter seit Langem die Macht der Versuchung kennt? Vielleicht war es ein Wunsch der Mutter, sich eine kleine Erleichterung zu verschaffen, wie jedes Beichten sie mit sich bringt. Möglicherweise erwartete sie, gerade bei der Tochter Verständnis für ihre Untreue zu finden.

Mutter und Tochter teilen nun ein brisantes Geheimnis. Beide ahnen nicht, dass der Vater jetzt ebenfalls die traurige Wahrheit kennt. Für ihn ist plötzlich die heile Welt zusammengebrochen. Er muss zur Kenntnis nehmen, dass neun seiner zehn Söhne illegitim (hebräisch: Mamserim) sind.

Mamser Zweifellos kennt der Ehemann folgenden Vers der Tora: »Es komme nicht ein Mamser in die Versammlung Gottes. Auch das zehnte Geschlecht komme von ihm nicht in die Versammlung Gottes« (5. Buch Mose 23,3).

Wie reagierte der Mann, als er aus dem Mund seiner Frau hörte, dass er neun Mamserim großgezogen hatte?

Der Betrogene ließ sich zunächst nichts anmerken; alles lief wie bisher weiter.

Yaara Inbar gibt folgende Erklärung für sein Verhalten: Der Mann wollte seine Ehre nicht verlieren und tat deshalb so, als sei er ahnungslos.
Vielleicht handelte er aus Liebe. Denn trotz der wiederholten Untreue liebte er seine Frau immer noch und wollte sich deshalb nicht von ihr trennen. Indem er das Geheimnis für sich behielt, ersparte er den Mamserim, die ihn für ihren leiblichen Vater hielten, ein bedauernswertes Schicksal.

Die Folgen des unsittlichen Handelns machten dem Mann aber doch zu schaffen. Denn »als er im Sterben lag, sprach er: Mein ganzes Vermögen soll meinem einen Sohn gehören«.

Diese Anweisung enthält eine geheime Botschaft an seine Frau: Er signalisierte der Ehebrecherin, dass ihm ihr Geheimnis nicht verborgen geblieben ist.

Richter Die Söhne aber wussten nicht, welches Kind den Vater beerben sollte, und sie wandten sich an Rabbi Banaah, der die mysteriöse Sache aufklären sollte.

In der Tat gelang es Rabbi Banaah, die ihm gestellte Aufgabe zu lösen: »Er sprach zu ihnen: ›Geht, schlagt auf das Grab eures Vaters, bis er aufsteht und euch offenbart, wem von euch er sein ganzes Vermögen hinterlassen hat.‹ Hierauf gingen neun Söhne hin. Der eine aber, der sein wirklicher Sohn war, ging nicht. Da sprach Rabbi Banaah zu ihnen: ›Das ganze Vermögen gehört diesem.‹«

Der Raschbam erklärt, der Richter habe die Söhne geprüft und sich für denjenigen entschieden, der nicht auf das Grab des Vaters schlagen wollte.
Eine Begründung für sein Urteil gab Rabbi Banaah nicht, denn auch er wollte das dunkle Geheimnis der Mutter nicht publik machen.

Die neun Mamserim, die dank Rabbi Banaahs Umsicht ihren sozialen Status nicht erfuhren, waren unzufrieden und zeigten ihren Richter bei der Regierung an. Er wurde sofort verhaftet und in ein Gefängnis gesteckt.
Die interessante Geschichte seiner Befreiung soll ein andermal an dieser Stelle erzählt werden.

Talmudisches

Birkat HaIlanot

Warum für unsere Weisen mit dem Anblick der blühenden Bäume nicht nur eine visuelle Freude verbunden ist

von Rabbinerin Yael Deusel  04.04.2025

Geschichte

Das Rätsel der christlichen Kabbala

In einer Dorfkirche im Schwarzwald hängt ein außergewöhnliches Gemälde. Unser Autor ist hingefahren, um die evangelische Sicht auf die jüdische Mystik zu verstehen

von Valentin Schmid  04.04.2025

Rabbinerausbildung

»Wenn es kriselt: durchatmen«

Dmitrij Belkin ist Vorstand der neuen Nathan Peter Levinson Stiftung. In seinem ersten Semester am Potsdamer Standort, der durch den Homolka-Skandal vorbelastet ist, hat er gelernt, Ruhe zu bewahren

von Mascha Malburg  03.04.2025 Aktualisiert

Wajikra

Kraft der Demut

Warum Bescheidenheit der Schlüssel zu wahrer Größe und innerem Frieden ist

von Samuel Kantorovych  03.04.2025

Berlin

»Wunder der Geschichte«: Der Zentralrat der Juden in Deutschland wird 75

Die früheren Bundespräsidenten Gauck und Wulff würdigen den jüdischen Dachverband

von Imanuel Marcus  02.04.2025

Pekudej

Eine Frage der Hingabe

Warum Gʼtt den Künstler Bezalel auswählte, das Stiftszelt in der Wüste zu bauen

von Rabbiner Joel Berger  28.03.2025

Talmudisches

Scheidungsurkunden im Krieg

Was unsere Weisen über eine ungewöhnliche Maßnahme lehren

von Yizhak Ahren  28.03.2025

Gebet

Beim ersten Hahnenschrei

Morgens soll der Mensch eine Reihe von Segenssprüchen sprechen, um Gʼttes Welt »zu seiner« zu machen

von Rabbiner Avraham Radbil  27.03.2025

Talmudisches

Brot

Was unsere Weisen über das wichtige Nahrungsmittel lehren

von Chajm Guski  21.03.2025