An diesem Schabbat Chol Hamoed befinden wir uns nun schon mitten in Sukkot, dem Laubhüttenfest. Die schweren Hohen Feiertage Rosch Haschana und Jom Kippur sowie dazwischen auch die zehn Tage der Umkehr liegen hinter uns. Inzwischen sind auch der erste und zweite Tag von Sukkot vergangen, und vor uns liegen drei weitere besondere Tage, die aber keine großen biblischen Feste sind: Hoschana Rabba, Schemini Azeret und Simchat Tora.
Da breitet sich fast unausweichlich eine gewisse liturgische Müdigkeit aus. Soll man weiterhin an Teschuwa, Umkehr, denken? Jubeln wir noch über die erfolgreiche Ernte? Fühlen wir uns noch immer wie in den alten Tagen in Zelten in der Wüste? Haben wir wirklich Lust, fremde Gäste in unsere Sukka einzuladen, seien es Uschpisin aus biblischen Zeiten oder Nachbarn und andere Gemeindemitglieder? Welche Auswirkungen auf Sukkot wird der Klimawandel haben? Es ist ja eine gute Zeit, an unsere Abhängigkeit von der Natur zu erinnern und dies ernst zu nehmen.
Haftara An diesem Schabbat mitten in den Tagen von Sukkot wenden wir uns plötzlich in der Haftara messianischer Außenpolitik zu – einem Schicksalskrieg zwischen Israel und Gog, dem Prinzen von Magog. Die Israeliten sind schon das zwölfte Jahr in der Verbannung (Jecheskiel 33,21), es gibt mehrere Prophetenworte gegen ihre Hirten (34,2), gegen den Berg Seir (35,2), gegen die Berge Israels (36,1), und Jecheskiel spricht davon, dass die Toten wiederauferweckt werden sollen zum Leben (37, 1–14). Dann erzählt der Text von Meschech und Tubal (38, 2–6), von Persien, Cush und Put sowie von Gomer und Tagorma im Norden.
Seit Jahrhunderten versuchen rabbinische Kommentatoren, diese Mächte zu identifizieren, und sie tun es auch heute noch. Es ist nicht schwer, im Iran, der Hisbollah oder den Taliban Kräfte zu sehen, die die Existenz Israels bedrohen. Früher waren es Babylon oder Rom, später Hitler und auch Stalin, und wer weiß, wer der Nächste sein wird?
Die Welt verändert sich in jedem Jahrhundert, in jedem Jahrzehnt. Doch eine Konstante ist: Israel fühlt sich immer bedroht, und es wird auch tatsächlich immer bedroht. Nur die dümmsten Juden – von denen wir leider immer einige unter uns haben – können das nicht sehen. Sie leiden offenbar an Schuldgefühlen und wollen sich der Welt gegenüber dafür entschuldigen, dass wir Juden immer noch existieren. Ich will das nicht. Es ist mir egal, wer heute Gog ist und welches Land Magog sein soll. Es bleibt immer ein Gefühl der Bedrohung – sowohl in Israel als auch in der Diaspora. Ruhe vor unseren Feinden hatten wir noch nie – und einen echten Frieden schon gar nicht.
Jecheskiel Was Gott in unserer Haftara durch Jecheskiel prophezeien lässt, ist ein riesiges Schlachtfeld: Israels Feinde werden angreifen, einmarschieren und zunächst über Israel siegen. Doch dann wird sich das Schicksal wenden, und die Bewohner des Landes werden mehr als ein halbes Jahr brauchen, um alle Leichen von Gogs Armee und seinen Verbündeten einzusammeln und zu bestatten. Und sieben Jahre lang wird man die alten Waffen und das Kriegsgerät als Brennholz benutzen können.
Was sollen wir daraus lernen? Langfristig zu denken? Ein Krieg ist nicht vorbei, wenn der letzte Soldat gefallen ist? Ein Sieg bedeutet mehr, als auf dem Schlachtfeld zu gewinnen, denn es braucht danach auch eine stabile neue Weltordnung? Interessanterweise wird das Wort »Frieden« hier nie benutzt.
Ich sehe einen weiteren Faktor: Viele von Israels gegenwärtigen Feinden sind religiös – zumindest sagen sie das von sich. Sie behaupten, Diener Gottes zu sein, sprechen von einer Armee Gottes (oder Allahs), sie kämpfen nicht aus Gier, sondern aus Überzeugung. Für Monotheisten – seien es Juden oder eben auch Islamisten – gibt es aber nur den einen Gott. Kann derselbe einzige Gott auf beiden Seiten agieren? Kann Gott die Feinde Israels ermutigen, damit er sie später vernichten kann? Das könnte eine mögliche Interpretation sein.
rätsel Die Passage, die wir an diesem Schabbat lesen, hat mit Sukkot, Teschuwa, den Hohen Feiertagen, mit Sündopfern oder mit der Ernte überhaupt nichts zu tun. Es bleibt ein Rätsel, warum wir sie an diesem Schabbat lesen und wie wir sie verstehen sollen, welche Zusammenhänge mit dieser Jahreszeit oder mit unserer Spiritualität zu finden sein sollen.
Nur eines bleibt klar: Israel hat immer Feinde – aber man soll trotzdem an einen Sieg glauben. Dieser Zukunftsvision können wir entnehmen, dass es doch eine Zukunft geben wird. Für uns.
Der Autor ist Rabbiner und lebt in Berlin.