An das siebentägige Sukkotfest schließt sich Schemini Azeret an, der achte Tag der Versammlung. Wir begehen ihn als einen weiteren Feiertag, an dem nicht gearbeitet werden darf. Dieses Fest zeichnet sich durch keine eigene Symbolik aus. Es gibt keine besonderen Mizwot, die ausgerechnet zu Schemini Azeret erfüllt werden, wie Mazza zu Pessach und die Sukka zu Sukkot. Damit lädt dieses Fest zu verschiedenen Deutungen ein.
Manche erklären, dieser Jom Tow steht für das Ende der Feiertage, die mit Pessach begonnen haben, und nennen das Fest entsprechend Schlussfest.
mizwot Andere betonen, Schemini Azeret biete einen sachten Übergang in den festtagsarmen Alltag nach der Zeit von Rosch Haschana bis Sukkot, die mit der Ausübung von vielen Mizwot und Bräuchen gefüllt war.
Und es wird die Auffassung vertreten: Nachdem der Ewige über einen so langen Zeitraum von Hohen Feiertagen sich intensiv und tief mit uns verbunden hat, sehnt Er sich nach einem Abschied, der sich nicht abrupt mit dem Ende des siebten Tages von Sukkot vollzieht.
Schemini Azeret kann man daher als Zugabe eines Feiertages verstehen, der den Abschied der Feiernden voneinander hinauszögert. Er geht auf Gottes Wunsch zurück, dass wir Ihm noch einen Tag schenken, um mit Ihm zu verweilen und die Festtagsfreude bewusst miteinander ausklingen zu lassen – so wie ein Vater seine Kinder bittet: »Bleibt noch einen weiteren Tag bei mir, denn es fällt mir schwer, mich von euch zu trennen.«
Manche sagen, das Fest biete einen sachten Übergang in den festtagsarmen Alltag.
Auffällig und doch zugleich einleuchtend ist, dass das Gebet um Regen nicht schon zu Sukkot gesprochen wird, sondern erstmalig im Mussafgebet von Schemini Azeret: Solange man in der Sukka sitzt, verzichtet man lieber auf Regen.
In den aschkenasischen Gemeinden trägt der Vorbeter einen weißen Kittel so wie bei den Gebeten von Jom Kippur, Rosch Haschana und Hoschana Rabba. Damit kommt auch der Ernst dieses Tages zum Ausdruck. Ob Regen fällt, steht allein in Gottes Macht. »Du lässt den Wind wehen und den Regen fallen«, beten wir bis Pessach. In manchen Gemeinden heißt das Regengebet auch Tikkun Hageschem.
In Israel fängt man erst mit Beginn des siebten Monats (Marcheschwan) an, für Regen zu beten. Das geschieht aus Rücksicht auf die Pilger, deren Heimreise nicht durch Regenfälle erschwert und verzögert werden soll.
OPFER Es stellt sich trotz allem die Frage, wie es dazu kam, dass Schemini Azeret den Rang eines Feiertags eingenommen hat. In der Vergangenheit, als die Juden noch zum Tempel pilgerten, setzte sich die Freude des Sukkotfestes im Alltag kontinuierlich fort. Man opferte für diejenigen, denen es nicht möglich war, nach Jerusalem zu kommen.
In den Gebetsliturgien findet sich die Formulierung »der Tag des Schemini Azeret, dieses Fest«, das sich zum Abschluss des Sukkotfestes entwickelte. Oder man sagte: »der achte Tag dieses Azeretfestes«. Die jemenitischen Juden sprechen vom »Schemini-Azeret-Fest«.
Unsere Weisen gebrauchen den Begriff »regel-pilgern« für die drei Wallfahrtsfeste Pessach, Schawuot und Sukkot. Später übertrugen sie ihn auch auf Schemini Azeret. Im Talmud wiederum ist vom »zweiten Tag von Schemini Azeret« die Rede. An ihm wurde Simchat Tora gefeiert. Der Tanach kennt kein solches Torafreudenfest.
FESTMAHL Doch der Überlieferung nach lud König Schlomo am achten Tag von Sukkot seine Dienerschaft zu einem Festmahl ein, als ihm bewusst wurde, dass Gott ihn mit Weisheit begabt hatte.
Der Midrasch folgert daraus: »Daher ist, wie Rabbi Eleasar meint, die Sitte entstanden, dass, wenn man die Tora durchgelesen hat, man ein Gastmahl veranstaltet« (Midrasch Rabba, Schir HaSchirim I, 1,9). Dieser Tag bekam zunächst den Namen »Jom HaBracha«.
Das Gebet um Regen wird nicht in der Sukka gesprochen, sondern erst an Schemini Azeret.
Es ist anzunehmen, dass Simchat Tora seine Ausprägung zur Zeit der Geonim (865–1040) in Babylonien erfuhr. Eine Generation nach ihnen erhält es im 11. Jahrhundert in Spanien und Frankreich seinen Namen und verbindet sich mit einem Fest, an dem Gesang und Lob zu Ehren der Tora laut werden. Doch durch die von den Kreuzzügen hervorgerufenen Pogrome kommt die Tradition dieses relativ jungen Festes wieder zum Erliegen.
DIASPORA Nach der Eroberung des Landes Israel durch den Osmanen Salach-Adin 1187 kehrten Juden dorthin zurück und nahmen die Tradition des Torafreudenfestes wieder auf. Dort wird es bis heute an Schemini Azeret begangen, während Simchat Tora in der Diaspora am zweiten Tag nach Sukkot gefeiert wird.
Am Tag der Torafreude endet und beginnt der jährliche Zyklus der Toralesungen, denn die Tora und das Toralernen kennen keinen Schlusspunkt. So setzt Schemini Azeret mit seinem zweiten Tag, dem Fest der Torafreude, einen positiven Akzent und verleiht der gesamten hohen Festzeit einen erhebenden Abschluss – wie auch Mosche die zwölf Stämme nicht ohne Segen ließ, bevor er starb.
Der Autor ist Rabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Bamberg und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).