Mischpatim

»Denn ihr wisst, wie es ist«

Wer Mobbing erlebt hat, wird später hoffentlich nicht selbst zum Täter, sondern setzt sich für Schwächere ein. Foto: Getty Images

»Einen Fremden (Ger) sollst du nicht bedrängen; denn ihr kanntet die Nefesch (Seele) der Fremden, weil ihr Fremde in Ägypten wart.« So lesen wir im 2. Buch Mose 23,9.

Die Tora unterscheidet zwischen zwei Arten von Fremden – hebräisch »Gerim«: dem »Ger Toschaw«, einer nichtjüdischen Person, die in der Antike unter den Israeliten wohnte, ohne dabei zum Judentum zu konvertieren, und einem »Ger Zedek«, einer Person, die zum Judentum konvertiert ist.

nefesch Laut dem mittelalterlichen Kommentator Raschi (1040–1105) und darauffolgenden Kommentatoren scheint es in unserem Vers um Letztere zu gehen. Der Vers könnte aber auch allgemein auf Fremde bezogen werden. Die Tora verbietet es, die Fremden zu bedrängen, da die Israeliten die Nefesch, die Seele, also das Gefühlsleben der Fremden aus ihrer Zeit in Ägypten kennen.

Die Israeliten wissen, wie schmerzhaft es ist, in der Minderheit, entrechtet und bedrückt zu sein. Die Tora ruft ihnen den Schmerz der Vergangenheit in Erinnerung, damit dieser die Israeliten empathisch für den Schmerz der anderen macht, soweit sie in der Mehrheit sind.

Ein Kind, das in der Grundschule gemobbt wird und dann in der Oberstufe lernt, sich durchzusetzen, steht vor der Wahl: Entweder es wird jetzt selbst zum Mobber der Schwächeren und kompensiert so die schmerzhafte Vergangenheit, oder es nutzt die neu erlangte Kraft und setzt sich für die Schwächeren ein. Die Erinnerung an den Schmerz wirkt als Motivation für die Gerechtigkeit oder als Vorlage, um das eigene Trauma weiterzugeben.

traumata Was für das Individuum gilt, gilt auch für Familien. In der Psychologie wird heute von transgenerationalen Traumata gesprochen. Dabei werden unter anderem Ängste und Gefühlseinstellungen, die durch vergangenen Schmerz erworben wurden, unbewusst an die Kinder und Kindeskinder weitergegeben.

Kinder, die keine Liebe bekommen haben, werden oft zu lieblosen Eltern. Es gilt, den Schmerz der Vergangenheit zu reflektieren und als Motivation zu nutzen, um es in Zukunft anders zu machen.

Was für Familien gilt, gilt auch für Völker. In der jüdischen Geschichte sind wir leider viel zu oft und zu schmerzhaft traumatisiert worden. Ich denke, dem jüdischen Volk gebührt großer Respekt dafür, dass es sich bis heute nicht völlig abgekapselt hat und weiterhin den Dialog sucht. Trotz allem, was geschah. Der Respekt gebührt genauso allen anderen Völkern, Familien und Individuen, die sich weigern, die selbst erlebte Gewalt der Vergangenheit weiterzutragen.

WECHSEL Interessanterweise stand das jüdische Volk im 20. Jahrhundert in einer ähnlichen Position wie in der Tora. Es verließ den Status einer gebrochenen Minderheit im Exil und erlangte den Status einer wehrhaften Mehrheit, die auch Macht über Fremde hat. Das Verlassen des Exils ist mit neuen Herausforderungen verbunden, die von verschiedenen Menschen unterschiedlich aufgenommen werden.

Der Psychoanalytiker Erich Fromm (1900–1980) schreibt: »Ist es verwunderlich, dass die Juden (…) in unverhältnismäßig großer Zahl zu denen gehörten, die die Ideale von (…) Gerechtigkeit proklamierten? Was von einem mundanen Standpunkt aus die Tragödie der Juden war – der Verlust ihres Landes und Staates –, war für sie vom humanistischen Standpunkt aus der größte Segen: Da sie zu den Leidenden und Verachteten gehörten, waren sie in der Lage, eine Tradition des Humanismus zu entwickeln und zu bewahren.«

Laut Fromm konnte sich ein machtloses Volk besser für die Gerechtigkeit anderer einsetzen. Einige Historiker vermuten, dass Fromm deshalb auch zum Gegner des Zionismus wurde, nachdem er eine Zeit lang in einer zionistischen Studentenverbindung aktiv gewesen war.

Rav Avraham Yitzchak Kook (1865–1935), einer der führenden Ideologen des religiösen Zionismus, schreibt: »Das Ziel ist es, eine große Gesellschaft zu schaffen, die ›den Weg G’ttes hütet, um Gerechtigkeit und Wohltätigkeit zu tun‹. Um dieses Ziel zu erreichen, muss das jüdische Volk über einen Staat mit politischer und sozialer Macht verfügen.« Laut Rav Kook ist die politische Macht kein Hindernis, sondern ein Werkzeug für die Gerechtigkeit.

ZAHLENWERT Zurück zum Wortlaut des oben zitierten Verses. Um die Gefühlswelt der Fremden zu beschreiben, wird das Wort »Nefesch«, Seele, benutzt. Spannenderweise hat es den Zahlenwert 430. Dies entspricht der Anzahl der Jahre, die Awrahams Kinder als Fremde verbringen mussten. Laut einigen Kommentatoren ist dies kein Zufall. All die Jahre der Dunkelheit waren nötig, um die Seele des Volkes zu bilden, das später die Tora empfangen sollte.

Gerechnet wird dabei, laut Raschi, ab dem Moment, in dem Awraham davon erfahren hat, dass seine Kinder in die Fremde gehen, bis zu dem Moment, in dem die Israeliten aus Ägypten auszogen.

Awraham erfuhr von der Sklaverei, als er nach einem Zeichen fragte. G’tt verspricht dem damals schon lange kinderlosen Awraham (der noch Awram) hieß, dass seine Nachkommen das Land Israel erben werden. Awraham fragt: »Woran soll ich merken, dass ich’s besitzen werde? (…) Da sprach G’tt zu Awram: Das sollst du wissen, dass deine Nachkommen Fremdlinge sein werden in einem Land, das nicht das ihre ist; und da wird man sie zu dienen zwingen und unterdrücken 400 Jahre lang« (1. Buch Mose 15, 7–13).

sklaverei Laut Raschi beziehen sich die 400 Jahre auf die Zeit ab dem Moment der Geburt seines Sohnes Jizchak. Einige Kommentatoren sagen, dass die Sklaverei nötig war, da Awraham an G’ttes Macht zweifelte und um ein Zeichen bat. Die Sklaverei wurde zum Beweis dessen, dass die Erlösung kommt, aber auch zur Sühne des Unglaubens.

Es ist auch zu bemerken, dass die Tora mit der Zählung der Jahre, die die Kinder Israels in Ägypten verbrachten, schon viele Jahre vor ihrer Einwanderung einsetzt. Sie beginnt noch vor der Geburt Jakows, der später den Namen Israel bekam. Daraus sehen wir, dass es als Teil der Sühne gilt, von der künftigen Sühne zu erfahren.

Vielleicht aber waren die 430 Jahre keine Sühne für den Unglauben, sondern notwendiger Teil eines g’ttlichen Plans, um die Seele auf künftige Ereignisse vorzubereiten und für immer ein Zeichen zu setzen – auf dass negative Muster gebrochen werden können.

Der Autor hat am Rabbinerseminar zu Berlin studiert und ist Sozialarbeiter.

inhalt
Der Wochenabschnitt Mischpatim wird auch als Buch des Bundes bezeichnet. Hier geht es um Gesetze, die das Zusammenleben regeln. Der zweite Teil besteht aus Regelungen zur Körperverletzung, daran schließen sich Gesetze zum Eigentum an. Den Abschluss der Parascha bildet die Bestätigung des Bundes. Am Ende steigen Mosche, Aharon, Nadav, Avihu und die 70 Ältesten Israels auf den Berg, um den Ewigen zu sehen.
2. Buch Mose 21,1 – 24,18

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