Taschlich ist ein sehr tiefsinniger jüdischer Brauch, der zum ersten Mal im 14. Jahrhundert beschrieben wird. Jedes Jahr, am Ausgang des ersten Tages von Rosch Haschana, nach dem Minchagebet, ist es Tradition, zu einem Bach, Fluss, Teich oder zum Meer zu gehen. Dort am Ufer sprechen wir das Taschlich-Gebet. Fällt der erste Tag von Rosch Haschana auf einen Schabbat, wie das in diesem Jahr 5781 der Fall ist, wird aufgrund des Verbotes, etwas zu tragen, die gesamte Zeremonie auf den Tag darauf verschoben (in diesem Jahr auf Sonntag, den 20. September).
Beim Taschlich schütteln wir unsere Sünden von uns ab. Sowohl bei der Ausführung wie auch symbolisch. Wir vollziehen Teschuwa, innere Einkehr. Und wir setzen unseren innigsten Wunsch nach Läuterung in die Praxis um, indem wir Brotkrümel ins Gewässer werfen. Der Text des Taschlich setzt sich aus Bibelstellen (Micha 7, 18–20 und Psalm 118, 5–9) zusammen. Das Wort Taschlich kommt aus Micha 7,19: »wetaschlich bimetsulot jam kol chattam«. »Möge Haschem alle unsere Sünden in die tiefste Stelle des Meeres werfen.«
TREUE Der gesamte Text lautet: »Wer ist ein G’tt wie Du, der die Schuld verzeiht und an der Sünde vorbeigeht? Du bleibst nicht auf diejenigen, die von Deinem Volk noch übrig sind, erbost, lieber zeigst Du denen Deine Treue. Du wirst Dich aufs Neue über uns erbarmen und alle unsere Sünden zunichtemachen. Unsere Sünden wirfst Du in die Tiefen des Meeres. Du erweist Ja’akow Deine Treue und Awraham Deine Güte, so wie Du das unseren Ahnen geschworen hast, in früheren Zeiten« (Micha 7, 18–20).
Die erste Quelle für diesen Brauch finden wir im Maharil, Rabbi Ja’akow ben Mosche Mölin (1360–1427). In seinen Minhagej Maharil erklärt er die Taschlich-Zeremonie mit dem bekannten Midrasch Tanchuma (Wajera 22): Awraham und Jizchak befinden sich auf dem Weg zum Berg Moria. Unterwegs werden sie von Satan in Gestalt eines Flusses gehindert. Dieser setzt alles in Bewegung, um die Akeda, die Opferung von Jizchak, zu verhindern. Awraham lässt sich jedoch nicht abschrecken.
In dem Augenblick, in dem er bis zum Mund im Wasser steht, wendet er sich zu G’tt: »Erlöse mich, o G’tt, das Wasser reicht bis zu meinen Lippen« (Psalm 69,2). Da sprach G’tt: »Durch Dich wird die Einheit Meines Namens auf Erden verkündet werden.« Sofort verschwand der sinnbildliche Fluss des Satan. Dieser Midrasch ist noch genauso aktuell wie vor 4000 Jahren. Gerade am Ufer eines Flusses oder an fließendem Gewässer zeigen wir, dass wir noch immer bereit sind, unser Leben Haschem zu widmen, genau wie einst Awraham und Jizchak.
Taschlich hat an fließendem Wasser zu erfolgen, also Majim Chajim, dem lebendigen Wasser, das G’ttes Geschöpfen zugleich Leben spendet. Das Wasser reinigt und ermöglicht Leben, genauso, wie Jom Kippur uns von unseren weniger guten Seiten reinigt.
Indem wir Brotkrümel ins Wasser werfen, setzen wir unseren Wunsch nach Läuterung um.
»Schau zu den Fischen im Strom«, rät uns der Rema, Rabbi Mosche Isserlis (1520–1577). Die Fische leben im Wasser und erinnern uns an unsere »natürliche Umwelt« unterhalb der Wasseroberfläche. Die Tora wird mit dem erfrischenden und reinigenden Wasser verglichen, das unsere natürliche Lebensquelle bildet.
FISCHE Der Talmud sagt uns (Berachot 61b), dass Rabbi Akiva weiterhin Tora Berabbim (in der Öffentlichkeit) lehrte, nachdem die Römer solche Aktivitäten bei Todesstrafe verboten hatten. Als Pappus Ben Jehudah Rabbi Akiva mit der Vernunft solcher Handlungen konfrontierte, antwortete er mit einem Maschal, einer Parabel, über den Fuchs, der Fischen, die ihren natürlichen Wasserräubern zu entkommen versuchten, auf dem Trockenen Zuflucht gewähren würde.
Obwohl es im Wasser vor Gefahren nur so wimmelt, begreifen die Fische, dass das Überleben nur möglich ist, solange sie in ihrem natürlichen Lebensraum bleiben. Wären sie auf das Festland »geflohen«, würde dies den sicheren Tod bedeuten.
Wasser ist für die Fische, was das Lernen von Tora und Tefila für Klal Israel, die jüdische Gemeinschaft, bedeutet. Außerdem sind die Fische für den »Ajin hara«, den bösen Blick, nicht greifbar. Indem wir auf die Fische blicken, hoffen wir symbolisch, dass wir vor der Eifersucht und dem Neid unserer Mitmenschen beschützt werden.
antisemitismus Vor allem der Antisemitismus basiert oft auf Missgunst. Fische sind auch ein Sinnbild für weitreichende Entwicklungen und lassen uns hoffen, dass wir Juden, vergleichsweise auch zahlenmäßig, in der Völkergemeinschaft einen angemessenen, dauerhaften Platz zuerkannt bekommen.
Rabbi Jeschaja Horowitz (1555–1630) macht uns ferner darauf aufmerksam, dass Fische die Augen andauernd geöffnet haben. Das steht für das Auge G’ttes. das immer geöffnet ist: »Hinej lo janum welo jischan Schomer Jisrael« – »Schau her, der Beschützer des jüdischen Volkes schlummert nicht und schläft nicht!« (Psalm 121,4).
Aber die Fische symbolisieren auch, wie zerbrechlich unser Leben und Schicksal ist, vergleichbar mit ihrem ungewissen Leben. Denn Fische können jeden Augenblick gefangen werden: »Dass auch der Mensch seine Zeit nicht weiß, gleich den Fischen, die mit dem bösen Netz gefangen werden« (Prediger 9,12).
TESCHUWA Rabbi Mosche Isserlis (1520–1577) verweist auf eine andere Bedeutung. An Rosch Haschana möchten wir einen Neuanfang wagen, buchstäblich durchstarten. Wir möchten uns von unseren Fehlern und kleinen Unehrlichkeiten reinwaschen. Die Teschuwa hilft hierbei. Denn wir spüren geradezu die neuen Möglichkeiten und das Bestreben nach einer besseren Lebensform. Gleichzeitig wollen wir uns von unserem bisherigen Leben verabschieden.
Die offenen Augen der Fische führen zur Erkenntnis, dass G’tt uns andauernd beobachtet. Am Ufer wenden wir uns an den Allmächtigen, besinnen uns auf unser Leben. Wo fließt das alles hin, in einem endlosen Strom von Ebbe und Flut? Bei den Meerestiefen, den »Metsulot Jam«, möchten wir die Größe G’ttes verspüren.
Wir stehen an einem Gewässer, das schon seit der Erschaffung der Welt fließt. Wir werden von der Natur ergriffen, an diesem sechsten Schöpfungstag, an dem Adam und Eva vor 5781 Jahren erschaffen wurden. An diesem Tag loben wir G’tt als den Schöpfer des Universums.
Der Autor ist Oberrabbiner der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, Dajan beim Europäischen Beit Din und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).