Im Traktat Jewamot (65b) heißt es: »Genauso wie es ein Gebot ist, eine Sache zu sagen, die auf offene Ohren stößt, ist es auch ein Gebot, bei einer Sache zu schweigen, wenn man weiß, dass sie nicht auf offene Ohren stößt.« Dies bezieht sich auf den Toravers: »Du sollst in deinem Herzen keinen Hass gegen deinen Bruder tragen. Weise deinen Mitbürger zurecht, so wirst du seinetwegen keine Sünde auf dich laden« (3. Buch Mose 19,17).
Es gibt also ein Gebot der Zurechtweisung. Fromme Menschen sollen sich gegenseitig auf ihre möglichen Vergehen aufmerksam machen, um daran zu wachsen. Findet die Zurechtweisung nicht statt, macht man sich mitschuldig.
Pflicht Die oben genannte talmudische Aussage grenzt dieses Gebot ein. Man hat nur dann die Pflicht, den anderen zurechtzuweisen, wenn man weiß, dass das Gesagte auch angenommen wird. Wenn man weiß, dass das Gesagte nicht angenommen wird, so muss man die Zurechtweisung zurückhalten. Anderenfalls macht man die Situation nur noch schlimmer.
Interessanterweise grenzt der Talmud dieses Gebot in Abhängigkeit vom Zustand des Kritisierten ein. Rabbi Nachman von Bratzlaw (1772–1810) geht noch weiter. Er macht nicht nur den Zustand des Kritisierten, sondern auch den des Kritisierenden davon abhängig, ob es eine Ermahnung geben sollte.
Er lehrt, dass dieses Gebot, auch wenn es auf die Tora zurückgeht, nicht von jedem erfüllt werden kann. Denn es setzt voraus, dass der Kritiker vollkommen bescheiden ist. Wenn die Kritik nicht wohlwollend und aus der Überzeugung kommt, kein bisschen besser zu sein als der Kritisierte, wird sie nur schaden.
GERÜCHE Um dies zu verdeutlichen, nutzt Rabbi Nachman die Metapher »schlechte Gerüche«: Es ist, als würde sich eine schlechter Geruch im Raum verteilen. Einen anderen Menschen taktlos auf Fehler hinzuweisen, ist so, als würde sich ein schlechter Geruch ausbreiten.
Am Ende ist die Situation nur noch schlimmer. Nur aus dem Bewusstsein heraus, dass alle Taten im Kontext der individuellen, g’ttgegebenen Natur erfolgen, dass man nicht weiß, wie man selbst handeln würde, wenn man anstelle des anderen wäre, nur aus einem solchen Verständnis darf man zurechtweisen.
Rabbi Nachman argumentiert also nicht gegen den Talmud, sondern fügt eine selbstkritische Perspektive hinzu. Dabei schöpft er seine Inspiration aus Worten des großen Talmudweisen Rabbi Akiwa, der einst sagte: »Ich zweifele daran, dass es in unserer Generation noch Menschen gibt, die in der Lage wären, jemand anderen (rechtmäßig) zurechtzuweisen« (Arachin 16b). Dies steht auch in Einklang mit einer Aussage in der Mischna: »Hillel sagte: ›Richte nicht über deinen Nächsten, bis du nicht an seine Stelle kommst‹« (Pirkej Awot 2,5).
BESCHEIDENHEIT Rabbi Nachman lehrt außerdem, dass es die Pflicht jedes Einzelnen ist, nach dem Guten zu suchen – auch dort, wo es nichts Gutes zu geben scheint. Man soll sich anstrengen, andere Menschen möglichst stark in den eigenen Gedanken zu entlasten. Durch diese Gedanken werden Energien frei, die den anderen tatsächlich zum Besseren verändern. Das heißt, an den Stellen, wo man nicht mehr Veränderung durch Zurechtweisung schaffen kann, da die eigene Bescheidenheit fehlt, kann Veränderung durch die gedankliche Entlastung des anderen erfolgen.
»Genauso wie es ein Gebot ist, eine Sache zu sagen, die erhört wird, ist es auch ein Gebot, bei einer Sache zu schweigen, wenn man weiß, dass diese nicht erhört wird.« Ich möchte eine weitere Interpretation hinzufügen, wie dieser talmudische Satz verstanden werden kann.
Wir haben in Situationen von Sorgen und Angst die Wahl, uns an G’tt zu wenden, der als der »Erhörer der Gebete« bezeichnet wird, und ihm von unseren Problemen zu berichten oder uns an die Angst zu wenden und sie durch sorgenvolle Erzählungen noch weiter zu füttern. G’tt kann uns erhören, unsere Ängste können das nicht. Daher gilt es im ersteren Fall zu reden (im Gebet) und im letzteren zu schweigen und sich nicht weiter in Panik zu versetzen.