Ki Tissa

Den anderen im Blick

Zentrales Thema des Wochenabschnitts Ki Tissa: die Geschichte vom Goldenen Kalb (2. Buch Mose 32,1 – 33,11) Foto: Getty Images/iStockphoto

An jedem Schabbat wird beim Morgengebet in der Synagoge der jeweilige Wochenabschnitt aus der Tora gelesen. Zu dieser Lesung werden sieben Personen zur Tora aufgerufen. Sie bekommen die Ehre, die Tora »mitzulesen«. Dafür wurde jeder Wo­chenabschnitt (mit Ausnahme von »WeSot haBracha«, der an Simchat Tora gelesen wird) von unseren Weisen in sieben feste Teilabschnitte (Alijot) unterteilt, und so bekommt jeder Aufgerufene einen Teil des Wochenabschnitts zu lesen. Diese Teilabschnitte sind in der Regel mehr oder weniger gleich lang.

An diesem Schabbat werden die Beter jedoch ein wenig erstaunt sein: Die ersten beiden Teilabschnitte scheinen übermäßig lang zu sein. Und wenn jemand nachprüft, ob das tatsächlich so ist, wird er verblüfft feststellen, dass diese ersten zwei Abschnitte 92 Verse enthalten – das sind fast zwei Drittel des Wochenabschnitts! Damit bleiben für die fünf weiteren Teilabschnitte insgesamt nur 47 Verse! Das kann kein Zufall sein.

Und tatsächlich, es gibt dafür eine spannende Erklärung, welche die Nächstenliebe und die Wertschätzung der Menschenwürde in Judentum herausragend auf den Punkt bringt.

SPUREN Das Hauptthema unseres Wochenabschnitts ist die Geschichte vom Goldenen Kalb (2. Buch Mose 32,1 – 33,11). Es war ein tragischer Fehler, den unsere Vorfahren nach dem Auszug aus Ägypten begingen, und er hat tiefe Spuren hinterlassen. Fast alle männlichen Juden waren damals an der Entstehung und der Anbetung des Goldenen Kalbs beteiligt. Laut der mündlichen Tora gab es jedoch einen Stamm, der bei dieser Sünde nicht mitgemacht hat: der Stamm Levi.

Wenn heute nach unserer Tradition am Schabbat sieben Männer aus der Tora lesen, dann wird zuerst ein Kohen aufgerufen, als Zweiter ein Levit und danach fünf »Israeliten«, die weder Kohanim noch Leviten sind. Und da auch ein Kohen ein Nachkomme Aharons ist, der ja auch ein Levit war, heißt das: Die ersten beiden Alijot gehen an Juden vom Stamm Levi (vorausgesetzt, es sind welche in der Synagoge anwesend).

Unsere Weisen haben entschieden, unseren Wochenabschnitt so aufzuteilen, dass die Geschichte vom Goldenen Kalb nur die beiden Leviten lesen, weil Leviten damals nicht daran beteiligt waren. Auf diese Weise wird vermieden, dass die aufgerufenen »Israeliten«, deren Vorfahren ja daran beteiligt waren, nicht beschämt werden oder sich schlecht fühlen. Denn sie müssten ja quasi vorlesen, was für einen furchtbaren Fehler ihre Väter begangen haben.

teilabschnitte Und da diese Geschichte in unserem Wochenabschnitt sehr ausführlich erzählt wird, mussten unsere Weisen die ersten beiden Teilabschnitte außergewöhnlich lang machen.

Interessanterweise gibt es in der Tora einen weiteren Wochenabschnitt, dem der gleiche Gedanke zugrunde liegt. Im Wochenabschnitt Korach (4. Buch Mose 16,1 – 18,32) wird erzählt, wie ein reicher Levit namens Korach wegen Egoismus und verletzter Ehre einen Aufstand gegen Mosche anzettelte. Dieser misslang, und G’tt bestrafte Korach und seine Komplizen für ihre große Sünde: Sie wurden auf wundersame Weise von der Erde verschluckt.

Hier wollten unsere Weisen den Leviten (welche die ersten beiden Alijot bekommen) den Schmerz ersparen, die Geschichte vom Tod ihrer Vorfahren vorlesen zu müssen. Deshalb endet die zweite Alija eines Leviten noch vor der Schilderung dieser Begebenheit.

Wir sehen anhand dieser beiden Beispiele, wie feinfühlig unsere Weisen waren und wie sie Rücksicht nahmen auf die Würde und die Gefühle von Menschen.

PATE Auch aus anderer Zeit sind Geschichten überliefert, die das Feingefühl und die Voraussicht großer Rabbiner belegen, wenn es um ihre Mitmenschen ging. So wird von dem berühmten Rabbiner Elasar Menachem Schach (1898–2001) erzählt, dass einst einer seiner Schüler zu ihm kam und berichtete, seine Frau habe männliche Zwillinge bekommen. Er bat seinen Lehrer, bei einem der beiden Jungen während der Beschneidung als San­dak, als Pate, zu fungieren, was sehr ehrenvoll ist.

»Und wer wird der Sandak bei deinem anderen Sohn?«, fragte Rav Schach. Der Vater der Zwillinge antwortete, dass dies sein Vater sein werde. Darauf antwortete der große Rabbiner, er werde entweder bei beiden Jungen Sandak sein oder überhaupt nicht.

Der Schüler war überrascht, doch sagte er zu – dann solle Rav Schach eben die Ehre bei beiden Jungen übernehmen. Kurze Zeit nach der Beschneidung fasste der Schüler Mut und fragte Rav Schach, was denn mit seinem Vater nicht stimme, dass der Rav ihn nicht als Sandak für den zweiten Sohn wollte.

problem Rav Schach lächelte und sagte: »Mit deinem Vater ist alles in Ordnung. Das Problem, das ich sah, hatte mit ihm nichts zu tun. Aber stell dir vor: In etlichen Jahren, wenn ich in den Himmel gerufen werde, werden alle darüber sprechen, wie groß und wie berühmt ich war. Und dann wird einer deiner Söhne sagen: ›Wisst ihr, dieser Rav Schach war Sandak bei mir!‹ Dein anderer Sohn, bei dem ich nicht Sandak gewesen wäre, würde dann vielleicht verbittert darauf reagieren, dass er nicht das Gleiche sagen kann. Deshalb wollte ich diese Situation unbedingt vermeiden und habe dir diese Bedingung gestellt. Jetzt können deine beiden Söhne davon erzählen, und keiner wird dadurch beschämt sein und sich schlecht fühlen.«

Daraus können wir lernen, dass wir, wenn es um die Würde und die Gefühle unserer Mitmenschen geht, vorausschauend denken müssen. Und was wir aus unserem Wochenabschnitt noch lernen: Man muss nicht die ganze Tora gelernt haben – manchmal reicht es, die Aufteilung der Teilabschnitte aufmerksam zu betrachten.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Dessau und Mitglied der
Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).


inhalt
Zu Beginn des Wochenabschnitts Ki Tissa wird Mosche damit beauftragt, die wehrfähigen Männer zu zählen. Es folgen Anordnungen für das Stiftszelt. Die Gesetze des Schabbats werden mitgeteilt, und es wird die Bedeutung des wöchentlichen Ruhetags als Bund zwischen dem Ewigen und Israel betont. Der Ewige gibt Mosche zwei Steintafeln, mit denen er ins Lager der Israeliten zurückkehrt. Dort haben sich die Wartenden in der Zwischenzeit ein Goldenes Kalb gegossen, dem sie Opfer darbringen. Im Zorn darüber zerbricht Mosche die Steintafeln, und der Ewige bestraft die Israeliten mit einer Plage. Später steigt Mosche auf den Berg und erhält neue Bundestafeln.
2. Buch Mose 30,11 – 34,35

Mischpatim

Gleiches Recht für alle

Schon die Tora regelt, dass es vor dem Gesetz keinen Unterschied zwischen Mann und Frau gibt

von Rabbiner Joel Berger  21.02.2025

Talmudisches

Krankheitserreger

Was unsere Weisen über Keime im Wasser lehrten

von Rabbinerin Yael Deusel  21.02.2025

Mitgefühl

Wie soll ein Mensch das ertragen!

Die Bilder der abgemagerten, gequälten Geiseln gehen nah – manchen zu nah. Aber darf man einfach wegschauen?

von Rabbiner David Kraus  21.02.2025

Ramchal

Klugheit vor Alter

Wie sich Rabbiner Mosche Chaim Luzzatto bereits in jungen Jahren einen besonderen Ruf erarbeitete

von Vyacheslav Dobrovych  20.02.2025

Berlin

»Jeder Mensch hat einen Namen«

Jüdische Gemeinde Chabad: Solidaritätsgebet für die israelischen Geiseln

von Detlef David Kauschke  19.02.2025

Valentinstag

Eins plus eins gleich eins

Einmal im Jahr Rosen und Pralinen schenken? Die orthodoxe Tradition hat eine andere Vorstellung von der Liebe

von Rabbiner Dovid Gernetz  14.02.2025

Jitro

Das Licht weitertragen

Jeder Einzelne ist Teil des geheiligten Ganzen und hat die Verantwortung, die Tora zu stärken

von Elie Dues  14.02.2025

Talmud

Leben retten

Was unsere Weisen über eine wichtige Mizwa lehren

von Rabbiner Avraham Radbil  14.02.2025

Geiseln und Glaube

»Ich wählte den Weg des Glaubens«

»Agam Bergers Bekenntnis zum jüdischen Glauben wird gleichzeitig bewundert sowie erstaunt zur Kenntnis genommen«, schreibt die Autorin

von Chiara Lipp  13.02.2025