Rezension

Dear Mr. President

»Sie haben Post«: Bill Clinton im Oval Office Foto: Reuters

Tüchtige Politiker brauchen kenntnisreiche Berater. Denn kein Mensch ist in der Lage, Spezialfragen auf allen Gebieten zu beantworten. Und wer viele Ansprachen halten muss, ist auf gebildete Redenschreiber angewiesen. In der Regel bleiben die Ideengeber und helfenden Mitarbeiter der Öffentlichkeit unbekannt. Nun ist der ungewöhnliche Fall zu vermelden, dass ein Beratungswerk im Buchhandel vertrieben wird.

Wer hätte vermutet, dass ein Tora-Gelehrter regelmäßig einem amerikanischen Präsidenten zur Erbauung und Erleuchtung Bibel-Betrachtungen zusendet? Bill Clinton, der von 1993 bis 2001 im Weißen Haus regierte, hat die vielen Schreiben, die er von einem orthodoxen Rabbiner erhielt, nicht einfach abgeheftet, sondern freundlich und sogar dankbar aufgenommen. In seinem Vorwort zu den nun in einem Sammelband veröffentlichten Briefen gibt Clinton zu Protokoll, die kleinen Essays hätten ihm bei seiner Arbeit wertvolle Dienste geleistet.

Für ihn, einen Baptisten, sei die Bibel stets eine Quelle der Inspiration und Anregung gewesen. Er freue sich über die Veröffentlichung: »Ich kann nur hoffen, dass ihre Weisheit das Leben anderer Menschen bereichern möge, wie sie mein Leben bereichert hat.«

Tora-Essays Der Herausgeber des Bandes, Rabbiner Menachem Genack aus Englewood (New Jersey), schildert in seiner »Einführung«, wie er Clinton kennen- und schätzen gelernt habe. Die Idee, dem 42. Präsidenten der USA regelmäßig Tora-Interpretationen zuzusenden, kam von Clinton. Genack bat zahlreiche Freunde und Bekannte, darunter angesehene Bibel-Exegeten, Wissenschaftler, Schriftsteller und Politiker, instruktive Tora-Essays für den Präsidenten zu verfassen.

Diesem Wunsch haben, wie jetzt jedermann sehen kann, viele Frauen und Männer entsprochen. Ihre Texte enthalten keine Tipps für das politische Tagesgeschehen, wohl aber viele Gedanken über Grundsatzfragen, die für einen Regierungschef von Bedeutung sind und selbstverständlich auch für andere Menschen.

Genacks Verbindung mit Clinton endete nicht mit dessen Amtszeit; so ist im Buch zum Beispiel ein im November 2009 verfasster Brief von Rabbiner Israel Meir Lau (Israel) an Clinton abgedruckt. Und im Jahre 2012 dankte Bill Clinton seinem Freund Genack für eine offensichtlich witzige Geburtstagskarte.

Mission Der frühere britische Oberrabbiner Jonathan Sacks hat einige Schreiben an den Präsidenten verfasst; ebenfalls aus seiner Feder stammt ein Vorwort, das man nicht überschlagen sollte. Sacks berichtet von seiner Erfahrung, dass gerade in unserer Zeit viele Nichtjuden eine jüdische Meinung zu moralischen und politischen Fragen hören wollen.

Er ist der Ansicht, diese Tatsache sei darauf zurückzuführen, dass die jüdische Stimme als unbedrohlich erlebt werde: Juden versuchen nicht, Mitglieder anderer Religionsgemeinschaften zum Judentum zu bekehren. Wohl aber hat das Judentum eine Mission in dieser Welt zu erfüllen. Schon der Prophet Jona hat im Kreise von Nichtjuden erfolgreich gewirkt; die Einwohner von Ninive haben Jonas Warnung ernst genommen und Buße getan. Nach Sacks ist es wichtig zu erkennen, dass jüdische Konzepte in der modernen Gesellschaft richtungsweisend für ein friedliches Zusammenleben aller Menschen sein können.

Wie hat Genack die Briefe angeordnet? Er hat auf eine Chronologie verzichtet und sich für eine Gliederung nach Themen entschieden. Wer den vorhandenen Index benutzt, kann für sich die Briefe an Clinton nach den Wochenabschnitten ordnen. Der Herausgeber hat die Texte in sieben große Schubladen einsortiert: Führung, Sünde und Umkehr, Schöpfung, Gemeinschaft, Glaube, Träume und Visionen, Feiertage. Behandelt werden nicht nur Passagen aus dem Pentateuch, sondern auch Stellen aus anderen Teilen der Bibel; etliche Talmud-Passagen sind erwähnt.

Es ist natürlich unmöglich, Überlegungen von mehr als 40 Autorinnen und Autoren in wenigen Zeilen angemessen zusammenzufassen. Niemand erwartet, dass sich subtile Bibel-Betrachtungen auf wenige Punkte reduzieren lassen. Aber zumindest an einem Beispiel soll hier gezeigt werden, wie aus wenigen Versen der Tora eine stets aktuelle Lehre abgeleitet werden kann. Referiert wird im Folgenden eine Interpretation von Rabbiner Joseph Telushkin aus Los Angeles.

Hebammen Telushkin bespricht die Passage, in der der ägyptische Herrscher die Anweisung gab, alle Söhne der Hebräer bei ihrer Geburt zu töten: »Doch die Hebammen fürchteten Gott und taten nicht, wie der König von Mizrajim ihnen angesagt, und erhielten die Knaben am Leben. Da rief der König von Mizrajim die Hebammen und sprach zu ihnen: Warum tut ihr solches und erhaltet die Knaben am Leben? Und die Hebammen sprachen zu Pharao: Weil nicht wie die ägyptischen Frauen sind die Hebräerinnen, denn lebenskräftig sind sie; bevor zu ihnen die Hebamme kommt, haben sie geboren. Und Gott ließ es wohlgehen den Hebammen« (2. Buch Mose 1, 17–20).

Der zivile Ungehorsam der Hebammen ist bemerkenswert! Die Bibel verrät uns, woher sie den Mut zu ihrer Tat nahmen: Sie fürchteten Gott. Ihre Gottesfurcht hat sie befreit von der Furcht vor Menschen. Die Frauen wollten jedoch keine Märtyrerinnen sein; deshalb haben sie auf die Vorhaltung des Königs mit einer Ausrede geantwortet. Die Unwahrheit ihrer Antwort lehrt uns: Obwohl ein Mensch verpflichtet ist, mörderische Anweisungen nicht zu befolgen, so ist er doch nicht verpflichtet, einem Tyrannen die Wahrheit zu sagen und um der Wahrheit willen zu sterben.

Diese Lektion mag vielen wenig originell erscheinen; aber diese kritischen Leser sollten in Betracht ziehen, dass hervorragende Denker wie der Kirchenlehrer Augustinus von Hippo und der deutsche Philosoph Immanuel Kant die Meinung vertraten, eine Lüge sei unter allen Umständen zu verurteilen. Die Moral der Tora sieht die Dinge anders!

Lektüre Mir erscheint es im Übrigen ratsam, mit diesem Sammelband wie mit einer Medizin umzugehen, die man nur löffelweise einnehmen soll. Es empfiehlt sich, bei jeder Sitzung höchstens zwei oder drei Texte zu studieren. Die Lektüre wird sich allerdings über mehrere Wochen erstrecken – aber, wie Bill Clinton bezeugt, die Mühe lohnt sich.

Der Autor ist Psychologe und lehrte an der Universität zu Köln.

Rabbi Menachem Genack: »Letters to President Clinton. Biblical Lessons on Faith and Leadership«, Sterling Ethos, New York 2013, XXIX und 256 Seiten. 24,95 US-$

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