Unser Wochenabschnitt Schelach Lecha schließt mit dem Gebot über die Zizit. Nachdem ein alter Mann am Schabbat Holz gesammelt hatte, sagte Gott zu Mosche: »Hast du gesehen, wie dieser Mann den Schabbat entweiht hat?« Mosche antwortete: »Das Volk Israel ist gerade aus Ägypten ausgezogen. Die Tora haben sie zwar empfangen, aber das Joch der Gebote haben sie noch nicht auf sich genommen.
Nur während der Woche legen sie Tefillin mit Schaufäden, die an die Mizwot erinnern. Doch am Schabbat legen sie keine Tefillin, und dadurch vergessen sie die Mizwot und führen Tätigkeiten aus wie an einem Wochentag. Daher kannst du diese Menschen, wenn sie den Schabbat entweihen, nicht beschuldigen.«
Daraufhin sagte der Ewige: »Dann werde ich jetzt dem Volk Israel ein Gebot geben, dass sie auch am Schabbat daran erinnert werden, die Mizwot zu erfüllen.« Diese Mizwa besteht in der Anfertigung und im Tragen der Zizit, wie in unserem Abschnitt geschrieben steht: »Sooft ihr sie anseht, sollt ihr an alle Gebote des Herrn denken und sie tun« (4. Buch Mose 15,39).
Körper Gott hat dem Volk Israel die Gebote gegeben, um es zu heiligen. Es soll sich durch die Observanz seiner Tora von den Gebräuchen anderer Völker unterscheiden. Der Ewige hat den Menschen entsprechend der Anzahl der ergangenen Gebote geschaffen. So entsprechen die 248 positiven Mizwot den 248 Gliedern und die 365 Verbote den Sehnen des menschlichen Körpers.
Wenn der Mensch eine Mizwa erfüllt, segnet er einen Teil seines Körpers. Und wenn er alle Gebote erfüllt, heiligt er den gesamten Körper. Der Gehorsam gegenüber allen Ge- und Verboten macht ihn zu einem ganzen Menschen. Die letzte Wahrheit findet ein Menschenleben in der Furcht Gottes – wie es im Buch Kohelet heißt: »Fürchte Gott und halte seine Gebote; denn das gilt für alle Menschen« (12,13).
Wir wissen, dass es unmöglich ist, alle 613 Ge- und Verbote zu halten. Es gibt Mizwot, die wir nicht erfüllen können. Daher hat Gott uns das Zizitgebot gegeben, das für alle 613 Gebote steht.
Im 4. Buch Mose 15, 37–41 lesen wir von der Anfertigung der Zizit und ihrer Funktion: »Die Kinder Israels sollen sich Quasten machen an den Ecken ihrer Kleider, für ihre künftigen Geschlechter, und sie sollen an die Quasten der Ecke einen purpurblauen Faden anbringen. Und es soll euch ein Merkquasten sein, dass ihr es anseht und aller Gebote des Ewigen gedenkt und sie haltet ... und heilig seid eurem Gott.«
Das Wort »Zizit« bedeutet »hinschauen«, und dementsprechend sprechen wir auch von den »Schaufäden«. Ein Blick auf sie bringt uns die 613 Gebote Gottes in Erinnerung. Ohne das Zizitgebot wäre nur ein Teil des Körpers in der Lage, sich zu heiligen.
Der Rambam (1135–1204) schreibt, dass die Zizit dem Haupthaar eines Menschen ähneln. Er bezieht sich dabei auf Jeheskel 8,3: »Und er streckte die Form einer Hand vor und fasste mich beim Schopfhaar (hebräisch hier: Zizit) meines Kopfes.«
In Mesopotamien wurden die Ecken der Kleider genutzt, um eine Unterschrift unter Urkunden zu setzen. Vor einiger Zeit wurde dort eine Tonscherbe aus dem neunten Jahrhundert v.d.Z. gefunden: Sie zeigt Aristokraten, deren Kleider mit Schaufäden ausgestattet sind.
Farbe Warum aber soll man »einen blauen Faden an die Quasten« anbringen? Blau ähnelt der Farbe des Meeres, und das Meer ähnelt dem Himmel, und der Himmel ähnelt Gottes Thron (Menachot 43,2).
Das bedeutet: Wenn wir auf die blaue Schnur schauen, dann erinnern wir uns an das Meer und den Himmel, die Gottes Schöpfung sind und dem Menschen als Lebenswelt dienen. Die Sonne geht nach der ihr festgesetzten Zeit morgens auf, und am Abend versinkt sie. Und auch dem Meer sind durch Gott Grenzen gewiesen. Das Meer und der Himmel bezeugen in ihrem fortdauernden Bestand Gottes Schöpfung.
Sie bekommen keinen Lohn für ihren Dienst, dass sie mit uns im Universum existieren, aber sie werden auch nicht bestraft. Wenn der Mensch sündigt, wird er sofort bestraft. Aber wenn er auf die blaue Kordel schaut, sündigt er nicht.
Das besondere Blau, das zum Färben der Schaufäden dient (hebräisch: Techelet), wird aus dem Blut einer Schnecke gewonnen. Der Talmud (Tosefta Menachot 9,6) sagt: »Wenn diese blaue Farbe nicht von dieser Schnecke stammt, ist sie nicht koscher.«
Man sagt, die Schnecke komme nur einmal in 70 Jahren aus dem Meer (Jalkut Me’am Lo’ez 184). Rabbi Gerschon Chanoch Leiner, der Admor aus Radzin (1839–1891), forschte über die Quelle der blauen Farbe und wurde an den Küsten Italiens fündig.
In der Nähe von Jerusalem stellt heute eine israelische Firma Tallitot nach traditioneller Art her und gewinnt das Purpurblau aus der Stumpfen Stachelschnecke (vgl. Jüdische Allgemeine vom 18. Mai).
Zahlenwert Die inhaltliche Verbindung der Schaufäden mit den 613 Geboten wird auch deutlich, wenn wir einen Blick in die Gematria werfen: Entsprechend dem Zahlenwert, den jeder hebräische Buchstabe besitzt, hat das Wort »Zizit« einen Zahlenwert von 600 (z = 90, i = 10, z = 90, i = 10, t = 400). An jedem Zipfel des Gewandes sind acht Schaufäden befestigt, die aus fünf Knoten bestehen – das ergibt die Summe aller Gebote: 613.
Weil das Zizitgebot für alle Gebote steht, ist es derart wichtig, dass seine Nichtbeachtung eine harte Strafe nach sich zieht. Wer jedoch das Zizitgebot achtet, lebt unter der Verheißung, Gottes Gegenwart, die Schechina, zu sehen (Schulchan Aruch, Orach Chajim 24,6).
Der Autor ist Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK) und war bis 2011 Landesrabbiner von Sachsen.
Paraschat Schelach Lecha
Mit Gottes Erlaubnis sendet Mosche zwölf Männer in das Land Kanaan, um es auszukundschaften. Von jedem Stamm ist einer dabei. Zehn kehren mit einer erschreckenden Schilderung zurück: Man könne das Land niemals erobern, denn es werde von Riesen bewohnt. Lediglich Jehoschua bin Nun und Kalew ben Jefune beschreiben Kanaan positiv und erinnern daran, dass der Ewige den Israeliten helfen werde. Doch das Volk schenkt dem Bericht der Zehn mehr Glauben und ängstigt sich. Darüber wird Gott zornig und will das Volk an Ort und Stelle auslöschen. Doch Mosche kann erwirken, dass Gottes Strafe milder ausfällt.
4. Buch Mose 13,1 – 15,41