Dekalog

Das zweite Gebot

Durch die Gestaltung eines Abbilds wird der Ewige seiner Ewigkeit beraubt. Foto: Illustration: Marco Limberg

Im 2. Buch Mose heißt es: »Du sollst dir kein Bild machen, kein Abbild dessen, was im Himmel droben und was auf Erden hier­unten und was im Wasser unter der Erde. Du sollst dich nicht niederwerfen vor ihnen und ihnen nicht dienen ...« (2. Buch Mose 20, 3–5). Was aber ist in der heutigen Zeit unter Abgöttern zu verstehen? Und was hat es im Judentum mit dem Bilderverbot auf sich?

Im Grunde genommen wird mit diesem Verbot ein Schutzraum für das mo­notheistische Ideal, also für den einen und einzigen G’tt, geschaffen.

Der frühere britische Oberrabbiner Josef Herman Hertz (1872–1946) erklärt in seinem Tora-Kommentar dazu, dass damit Irrwege in der Anbetung des einen G’ttes untersagt würden. Denn während jede andere Religion die bildhafte Darstellung ihrer Gottheiten nicht nur gestattet, sondern sogar gefordert habe, habe allein das Judentum von seinen ersten Anfängen an gelehrt, dass G’tt Geist sei.

Nun gibt es zwar seit jeher unterschiedliche Auffassungen darüber, was an dieser Stelle im Detail verboten ist. Etwa ob es nur um die Herstellung von Abbildern G’ttes geht oder ob auch die Abbildung des Menschen verboten ist, der laut der Tora ja schließlich im Angesicht G’ttes geschaffen wurde.

Kunst Oder ob Bildnisse nur dann untersagt sind, wenn sie mit der Absicht hergestellt werden, ihnen zu dienen. Klar ist aber, dass sich diese Vorschrift unmittelbar auf die Entwicklung – oder sollte man besser sagen: Nichtentwicklung? – der bildenden Künste im Volk Israel ausgewirkt hat.

Denn während vor allem das antike Griechenland sie in ungeahntem Maße kultivierte, sah es im alten Israel ganz anders aus. Dort konzentrierte man sich stattdessen auf die Verteidigung der reinen G’ttesvorstellung und einer moralischen Lebensweise.

Doch was ist eigentlich so schlimm an dem Versuch, ein Abbild G’ttes zu fertigen? Ist es dadurch nicht vielleicht einfacher, sich G’tt zu nähern, ihn zu erfahren und zu ihm zu beten? Es scheint so. Ist es aber nicht! Und doch liegt genau darin das fundamentale Problem!

Denn durch die Gestaltung eines Abbildes wird der Ewige seiner Ewigkeit beraubt. Wird der All­gegenwärtige an einen Ort gezwungen. Wird der Übernatürliche in natürliche Formen gepresst. Er wird damit dem brennenden Verlangen des Menschen untergeordnet, G’tt mit all seinen Sinnen erfahren zu können. Vor allem aber, ihn zu sehen.

So wie in dem Witz, in dem die Lehrerin ihre sechsjährige Schülerin im Kunstunterricht fragt, was sie denn gerade malen würde. »Ich male G’tt«, antwortet das Mädchen, worauf die Lehrerin gereizt meint: »Das ist unmöglich! Niemand weiß, wie G’tt aussieht«, woraufhin das Mädchen sagt: »In fünf Minuten wissen sie es!«

Intellekt Im Ernst: Das Judentum basiert auf einer hochkomplexen G’ttesvorstellung, der man sich nicht durch materielle Abbilder, sondern vor allem durch den Verstand, den Intellekt, das Denken nähern kann. Der jüdische G’tt ist zwar Schöpfer des Universums, der Welt, der Natur, aber er ist nicht Teil derselben. Und eben deshalb kann er auch nicht durch stoffliche Manifestationen eingefangen werden.
G’tt ist kein Bild, keine Statue, kein Himmelskörper. Er ist abstrakt. Er ist ewig. Er ist übernatürlich. Und vor allem: Er ist einfach.

Doch selbst wenn man sich dessen bewusst ist und die Skulpturen oder Bilder nur in der Absicht gestaltet, durch sie dem Ewigen zu dienen, besteht die große Gefahr, dass man das materielle Abbild irgendwann tatsächlich für die Verkörperung des Ewigen hält. Dass mit der Zeit die Schöpfung im Auge des Gestalters zum Schöpfer wird. Oder einfacher ausgedrückt: Das Bild, die Statue, der Gegenstand entwickelt sich zu einem falschen Gott. Und dem muss von Anfang an ein Riegel vorgeschoben werden.

Götzendienst Der zweite Ausspruch geht allerdings noch weiter, indem er Götzendienst ganz allgemein und in unterschiedlichen Spielarten verbietet. Und zwar nicht nur im klassischen Sinn, sondern auch im übertragenen. Doch was sind die Abgötter der Moderne? Was ist zeitgenössischer Götzendienst?

Der amerikanische Autor Dennis Prager schreibt in seinem Buch Think a Second Time, dass jeder Wert, ganz egal, wie schön oder bedeutungsvoll er auch sein möge, zu einem falschen Gott werden kann, wenn er nicht mit dem Ziel verfolgt wird, Gutes im Sinne des Ewigen zu tun.

Wenn also irgendein Wert nicht mit der Absicht verfolgt wird, moralisch und richtig zu handeln, sondern stattdessen irrational überhöht wird, wenn er also zu einem reinen Selbstzweck verkommt, dann mutiert er zum Dienst an einem modernen Götzen.

Reichtum Einleuchtend ist dies in folgenden Fällen: Wer rücksichtlos nach privatem Reichtum strebt, wer alles dem brennenden Wunsch nach Ruhm und Erfolg unterordnet oder wer skrupellos nach Macht, nach Kontrolle, nach Herrschaft strebt, der jagt modernen Götzen nach.

Und er wird auf seinem Weg zweifellos viel Schaden anrichten, viel Leid hervorrufen. Nicht, weil es seine eigentliche Motivation wäre. Sondern weil es der schnellste Weg ist, das selbst gesteckte Ziel zu erreichen.

Es sind gewissermaßen die Kollateralschäden, die auf dem Weg zum Ziel in Kauf genommen werden müssen. Oder anders gesagt: Der Zweck heiligt die Mittel. Das zweite Gebot dagegen stellt sich diesem Denken mit aller Macht in den Weg!

Daneben gibt es allerdings Fälle, die diffuser, unklarer sind und sich erst auf den zweiten Blick erschließen. Wie Rabbiner Joseph Telushkin in Jewish Wisdom aufzeigt, können diejenigen Götzen, die den modernen Menschen verführen, leider selbst mitunter von hohem Wert sein.

So etwa Bildung, die Kunst oder das Gesetz. In dem Moment jedoch, in dem man sie massiv überhöht, in dem man sie von G’tt und der Moral trennt, in dem man sie als Selbstzweck verfolgt, mutieren sie unweigerlich zu falschen Göttern. Und zwar bisweilen mit katastrophalen Folgen. Ein kurzer Blick in die Nazizeit beseitigt wohl alle Zweifel an der Richtigkeit dieses Gedankens.

Es kommt also stets darauf an, die richtigen Prioritäten zu setzen, mit Augenmaß zu agieren und sich von den Grundwerten des ethischen Monotheismus in Wort und Tat leiten zu lassen.
Schließlich bleibt noch eine letzte Frage offen: die nach der Bedeutung des letzten Verses, der da lautet: »... denn Ich bin ein eifervoller G’tt, der die Schuld der Väter ahndet an Kindern, am dritten und am vierten Glied, die mich hassen. Der aber Gnade übet am tausendsten Glied derer, welche mich lieben und meine Gebote halten.«

Meint der Vers also wirklich, was er zu meinen scheint? Straft G’tt die Kinder für das Fehlverhalten ihrer Väter bis in die dritte und vierte Generation? Nein, das meint er natürlich nicht! Und das lässt sich leicht erklären.

Schon beim ersten Lesen wird klar, dass die Gnade oder die Liebe G’ttes seine Bereitschaft zu ahnden um ein Vielfaches übersteigt.

Erinnern
Doch unabhängig da­von gibt es zwei entscheidende Punkte, die klarmachen, worum es hier eigentlich geht. Zum einen kann das hebräische Wort »poked« nicht nur mit »ahnden« oder »strafen« übersetzt werden, sondern auch mit »erinnern«. Das heißt also, dass G’tt sich an das Fehlverhalten der Väter für bis zu vier Generationen, also bis hin zu den Urenkeln, erinnert, sofern diese ihn noch hassen.

G’tt ahndet also gar nicht, sondern er berücksichtigt bei denjenigen Kindern, die ihn hassen, dass sie von schlechten Vorbildern aufgezogen, erzogen und geprägt wurden. Er rechnet ihnen diesen Umstand sogar positiv an, was genau das Gegenteil dessen ausdrückt, was der Satz beim Überfliegen eigentlich zu sagen scheint.

Zum Zweiten gilt das Gesagte – ganz gleich welcher Übersetzung man folgt –aber ohnehin nur für diejenigen Kinder, die den Weg ihrer Väter weitergehen und den Ewigen hassen!

Wer sich hingegen dem schädlichen Einfluss der bösartigen Vorfahren entzieht und sich für Liebe, Gerechtigkeit und das Gute entscheidet, dem wird es bis in alle Ewigkeit vergolten. Es obliegt also jedem Einzelnen, sich für den richtigen Weg zu entscheiden.
Die Ausgangsposition ist dabei naturgemäß unterschiedlich. Sie wird von verschiedenen Faktoren wie der Erziehung und der Umwelt geprägt. Das aber ändert nichts an der Freiheit eines jeden Einzelnen, sich für das Richtige, das Gerechte, das Gute entscheiden zu können. Und zwar immer wieder aufs Neue.

Der Autor ist Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.

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