In Bereschit, dem ersten Buch der Tora, lesen wir über einen »Isch Zadik«, einen »gerechten Mann«, mit dem Namen Noach, der »in seinem Zeitalter« wohl eine positive Ausnahmeerscheinung war. Es war das Zeitalter der Flut, die über die Erde kam, weil diese von »Gewalt erfüllt« schien. Welche Maßstäbe mag es zu dieser Zeit für einen gerechten Menschen gegeben haben? Im Talmud diskutieren genau dies Rabbi Jochanan und Resch Lakisch. So erklärt Rabbi Jochanan: »Nur unter seinen Zeitgenossen galt er (Noach) als gerecht, nicht aber in einem anderen Zeitalter.«
Noachs Gerechtigkeit wird hier vor dem Hintergrund des schweren Fehlverhaltens seiner Umgebung abgeleitet. In einem anderen Zeitalter wäre er wahrscheinlich überhaupt nicht aufgefallen. Oder anders formuliert: Unter vielen schlechten Menschen fällt sogar eine mittelmäßige Person schnell positiv auf.
Man könnte es aber auch anders betrachten, ist Resch Lakisch dagegen überzeugt: »Trotz seiner Zeitgenossen war Noach ein Gerechter, und umso mehr wäre er es in einem anderen Zeitalter.« Demnach bedurfte es einer ganz besonderen Kraftanstrengung, sich nicht von den anderen beeinflussen zu lassen. Gegenüber dem schlechten Verhalten der Mehrheit standhaft zu bleiben und seine eigenen, sprich guten, Prinzipien zu bewahren, obwohl die übrigen diese nicht beachteten und es ihnen deshalb bis zum Zeitpunkt der Flut nicht unbedingt schlechter ging, das sei die eigentliche Leistung gewesen.
Nach der Flut schließt Gott mit Noach einen Bund, der mit den sieben Noachidischen Geboten verbunden ist
Nach der Flut schließt Gott mit Noach einen Bund, der mit den sieben Noachidischen Geboten verbunden ist. Dazu gehört unter anderem die Einführung von Gerichten als Entscheidungsinstanzen. So heißt es zu Beginn des Wochenabschnitts Schoftim, dass Richter und Beamte eingesetzt werden sollen. Recht und Ordnung sind nunmehr die Eckpfeiler einer funktionierenden Gesellschaft. Zudem soll nicht nach dem Ansehen einer Person das Urteil gesprochen werden, und auf keinen Fall dürfen Bestechungen angenommen werden.
Unabhängig davon, ob eine Person reich oder arm ist oder es sich um einen König, Rabbiner, Landwirt oder Bettler handelt – für alle gilt vor Gericht das gleiche Recht. Man könnte auch sagen: Die Gerichte haben unparteiisch zu sein und müssen gerecht urteilen, unabhängig davon, wer mit wem streitet.
Dazu passt der dann folgende Vers, der sich nicht nur auf Gerichte bezieht, sondern allgemein zu verstehen ist: »Zedek, Zedek tirdof, lema’an tichje.« Übersetzt heißt dies: »Der Gerechtigkeit, der Gerechtigkeit sollst du nachtrachten, so wirst du leben.« Es fällt auf, dass hier das Wort »Zedek« gleich zweimal hintereinander benutzt wird. Ist das positiv gemeint? Was mag der Grund für diese Dopplung sein?
Überraschenderweise gibt es nicht nur eine Erklärung, sondern gleich mehrere. In seinem berühmten mittelalterlichen Torakommentar schreibt Abraham Ibn Esra (1089–1167): »Wir sollen Gerechtigkeit üben, egal ob zu unserem Gewinn oder Schaden.« Selbst wenn es bedeutet, dass wir dadurch einen Verlust machen, so sollen wir gerecht mit anderen umgehen. Das mag sich zunächst ein wenig abstrakt anhören. Denn in welchem Zusammenhang mag gerechtes Verhalten einen Verlust erbringen? Dieser muss sich nicht unbedingt auf Geld, sondern kann sich auch auf Zeit beziehen.
Ein Beispiel verdeutlicht dies: Ein Chef, der eigentlich keine Zeit hat, hört, dass ein Mitarbeiter persönliche Probleme hat. Er nimmt sich Zeit, um mit ihm zu sprechen. Vielleicht verpasst der Chef genau deshalb einen wichtigen Termin, vielleicht aber gewinnt er durch diese Bereitschaft, Zeit zu investieren, die woanders dann fehlt, das Vertrauen seiner Mitarbeiter. Sie sehen, dass er im Ernstfall die richtigen Prioritäten setzt. Aber egal, wie man es betrachtet: Gerechtigkeit sollte unabhängig von solchen Gedankenspielen geübt werden.
Das Wort »Zedek«, also »Gerechtigkeit«, steht zudem mit »Zedaka«, was so viel wie »Wohltätigkeit« heißt, in einem Kontext. In seinen berühmten acht Stufen der Wohltätigkeit bewertet Maimonides, der Rambam (1138–1204), Spenden, die anonym gemacht werden, höher ein als jene, bei denen der Spender namentlich bekannt ist. »Gewinn und Schaden« – der »Gewinn« ist natürlich größer, wenn jeder weiß, dass man viel Gutes tut. Dennoch gilt: Wenn man Gutes tun will, dann um der Gerechtigkeit selbst willen und nicht, weil man sich auf diese Weise einen Image-Mehrwert erhofft.
Der Kabbalist Bachja ben Ascher (1255–1340) schreibt: »Gerechtigkeit, gleichviel, ob dir zum Nutzen oder zum Schaden, sowohl in Wort als auch in Tat, gegenüber dem Juden und dem Nichtjuden.« Dies erweitert die Aussage von Ibn Esra. Denn die Feststellung »sowohl in Wort als auch in Tat« legt nahe, dass es nicht ausreicht, darüber zu philosophieren, was alles an Gerechtem getan werden sollte. Oder zu versprechen, welche guten Dinge man tun möchte. Das gilt ebenfalls für Erzählungen über Taten aus der Vergangenheit, ganz nach dem Motto: »Was habe ich nicht schon alles Gutes in meinem Leben geleistet!« Das mag vielleicht inspirierend wirken, ist aber kaum ausreichend. Das Wort braucht auch die Tat. Ankündigungen sollten zeitnah umgesetzt werden.
Bachja ben Ascher schreibt, dass man Gerechtigkeit sowohl gegenüber Juden als auch gegenüber Nichtjuden üben soll
Ferner schreibt Bachja ben Ascher, dass man Gerechtigkeit sowohl gegenüber Juden als auch gegenüber Nichtjuden üben soll. Dies ist ein wichtiger Hinweis. Denn man könnte meinen, dass die soziale Verantwortung gegenüber Juden eine größere sei als gegenüber Nichtjuden. Dem aber widerspricht der Kabbalist. Wenn man beispielsweise jüdische und nichtjüdische Mitarbeiter hat, so trägt man als Chef für alle gleichermaßen Verantwortung.
Um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen: »Der Gerechtigkeit, der Gerechtigkeit sollst du nachtrachten« – dieser Satz ist auf jeden Fall positiv zu verstehen, weil Gerechtigkeit etwas Positives bewirkt. Die Doppelung soll uns als Ansporn dienen, Gerechtigkeit zu üben, selbst wenn dies mit einem Aufwand verbunden ist. Sie ist ein Ausdruck dafür, wie wichtig Gerechtigkeit ist – so wichtig, dass wir gleich doppelt dazu aufgefordert werden. Die Tora schlussfolgert: »So wirst du leben.« Das Leben ist die Grundlage unserer Existenz auf dieser Welt. Die Vergangenheit hat leider oft genug gezeigt, dass gerechte Menschen in schwierigen Zeiten nicht unbedingt verschont bleiben. Andererseits hat genau diese Haltung – wie eingangs erwähnt – Noach gerettet, und zwar eben, weil er ein gerechter Mann war.
Konkret heißt das: Unser Schicksal liegt letztendlich nicht in unseren Händen. Wir können jedoch durch unseren Lebenswandel und unsere guten Taten einen individuellen Beitrag dazu leisten, dass unser Umfeld ein besseres wird. Das geschieht in der Hoffnung, dass dies immer weitere Kreise zieht und wenn möglich positive Auswirkungen auf unser gesamtes Umfeld hat. Das wäre zumindest das Ideal.
Der Autor ist Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).
inhalt
Im Wochenabschnitt Schoftim geht es um Rechtsprechung und Politik. Es werden Gesetze über die Verwaltung der Gemeinschaft mitgeteilt sowie Verordnungen für Richter, Könige, Priester und Propheten. Die Tora betont, dass die Kinder Israels in jeder Angelegenheit nach Gerechtigkeit streben sollen. Bevor mit Verordnungen zum Verhalten in Kriegs- und Friedenszeiten geschlossen wird, weist die Tora darauf hin, dass ein Israelit, der einen anderen ohne Absicht totgeschlagen hat, sich in einer von drei Zufluchtsstädten vor Blutrache retten kann.
5. Buch Mose 16,18 – 21,9