Herr Solomon, Sie halten den Eröffnungsvortrag beim Jewish Culture Day der Heinrich-Böll-Stiftung. Worum geht es da?
Ich möchte den Hörern die Epoche der klassischen Prophetie Israels nahebringen, also die Zeit um das 8. und 7. Jahrhundert v.d.Z. Damals wurde das Gottesbild des jüdischen Volkes revolutioniert.
Was genau geschah da?
Die Propheten entdeckten, dass Gott nicht nur eine übermächtige Komponente im Weltgeschehen ist, sondern auch die moralische Ordnung gibt und bewahrt. Damit »erfanden« sie aber nichts Neues, sondern griffen auf die Wurzeln des jüdischen Gottesbildes zurück, das bereits mit Mosche Rabbenu begann, und formten es aus.
Die prophetische Ära ist ein spannender Zeitraum. Können Sie denn innerhalb einer Stunde deren Fülle vermitteln?
Es ist unmöglich, über die Epoche in ihrer Gänze zu sprechen. Man müsste viele Stunden über diese 100 bis 150 Jahre referieren. Da ich aber nur einen Aspekt dieser Zeit herausgreife, wird dies zu schaffen sein.
Sie haben sich damit einen Ruf gemacht, dass Sie auch die größten und umfassendsten Themen des Judentums in einer Stunde zusammenfassen können. Wie kommt das beim Publikum an?
Ich habe fast nur positive Erfahrungen gemacht.
Sie bemühen sich um die Verbreitung der hebräischen Sprache unter Juden. Weshalb?
Viele Juden pflegen nur ein beschränktes Verhältnis zum Judentum, weil sie nicht Hebräisch gelernt haben. Ihnen fehlt der Schlüssel zur gesamten Traditionsliteratur. Es genügt nicht, fremdsprachige Sekundärliteratur zu lesen. Jeder muss die Quellen im Original lesen können.
In Ihren Vorträgen beziehen Sie die Quellen stark mit ein. Wollen Sie die Leute damit an die Quellen locken?
Ja, durchaus. Ich arbeite zurzeit sogar an einem Vortrag, der den Hörern die Grundsätze der hebräischen Sprache erklären soll – mit einem Schwerpunkt auf der Grammatik. »The Whole of the Hebrew Language in One Hour« soll er heißen.
Planen Sie dies auch für die aramäische Sprache?
Nein, das wäre etwas für Fortgeschrittene. Der Großteil unserer Tradition ist hebräisch. Aramäisch kann man später zusätzlich erlernen, wenn man Kenntnisse im Hebräischen hat. Darauf liegt die Priorität.
Apropos Aramäisch: Sie sind ein großer Kenner des Sohar, des wichtigsten Werkes der Kabbala und der jüdischen Mystik. Glauben Sie, dass das traditionelle Verbot, die Kabbala öffentlich – und Menschen unter 40 Jahren – zu lehren, noch besteht?
Man sollte heute jeden Interessierten an die jüdische Literatur heranführen. Ich werde niemandem sagen, er solle dieses oder jenes Buch nicht anfassen, geschweige denn lesen. Höchstens werde ich ihn darauf hinweisen, dass er bestimmte Werke vielleicht eher verstehen wird, wenn er gewisse Grundlagen erlernt hat. Aber wenn er es unbedingt lesen will, sehe ich darin kein Problem. Das Schlimmste, was passieren kann, ist Verwirrung. Außerdem sei gesagt, dass für manche Leser die Werke des mittelalterlich-jüdischen Rationalismus, wie etwa die des Rambam, viel schwieriger zu verstehen sind als kabbalistische.
Und was ist mit nichtjüdischen Werken. Wie sieht da Ihre Empfehlung aus?
Ich bin für eine Offenheit der Lesemoral. Dies gilt dann selbstverständlich auch für nichtjüdische Literatur sowie jüdische Literatur, die nicht in der Tradition steht. Heute kann jeder alles lesen. Wir sind ja auch das Volk des Buches. Sollte ein Mensch morgen früh aufwachen und meinen, er wolle Spinoza lesen, dann kann er das ruhig machen. Will er dann am Nachmittag noch Nietzsche lesen, dann geht auch das. Er sollte sich nicht von Toragelehrten oder säkularen Dozenten sagen lassen, was er lesen sollte und was nicht. Das Wichtigste ist, dass er über das Gelesene nachdenkt und daraus lernt.
Was halten Sie von modernen Entwicklungen, zum Beispiel in den Vereinigten Staaten, die die Kabbala vom Judentum trennen möchten?
Ich unterstütze jede Strömung in der Kabbala, die die Menschen an die Quellen heranführt, also an die klassischen Schriften. Doch wenn bestimmte Lehrer volksnah und in beschränkter Weise die Fülle der kabbalistischen Traditionen zurechtschneiden und verfälschen, um damit Menschen in eine esoterische Wohlfühlwolke zu hüllen, dann bin ich dagegen. Ein guter Lehrer wird seinen Schülern die Quellen nahebringen und sie ihnen keinesfalls vorenthalten.
Glauben Sie, dass es Fortschritte in der jüdischen Theologie geben kann, dass also das Volk Israel sich in Zukunft weiterentwickeln wird und Neues, etwa in der Metaphysik, ergründen wird, so wie Sie es in Ihrem Vortrag auch von den Propheten sagen?
Jede Epoche in der Geschichte des jüdischen Volkes ist heilig. Deshalb erklimmt das Volk Israel in jeder Generation auch neue Höhen, so wie es das durch die Propheten in der Antike und durch die Kabbala und Philosophie im Mittelalter getan hat. Stets kann es uns gelingen, neues göttliches Licht herunterzuholen. Dafür wurde das jüdische Volk geschaffen. Das ist seine kosmisch bedingte Aufgabe.
Mit dem Publizisten sprach Netanel Olhoeft.
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