Pessach

Das ungesäuerte Brot

Die Herstellung von Mazze gilt als Mizwa, als eine religiöse Pflichterfüllung. Foto: Flash 90

Das Pessachfest, das uns seit biblischer Zeit an den Auszug unserer Ahnen aus dem Sklavenhaus Ägyptens erinnert, ist mit vielen rituellen Vorschriften und Verhaltensregeln verbunden.
Pessach wird auch »Chag Hamazzot«, Fest der ungesäuerten Brote, genannt. Der Grund liegt darin, dass das Brot dieses Festes, die Mazze, uns sozusagen als tägliches Brot während der acht Tage begleitet.

Nun könnte man sagen, Pessach sei ein Hinweis auf die Errettungstat G’ttes an seinen unterdrückten, versklavten jüdischen Kindern – damals in Ägypten. Einmalig und für jeden von uns unwiederholbar und unnachahmlich. Eben eine Heilstat des Herrn! Jedoch die Mazze, die kann sich ein jeder von uns selbst backen, kaufen oder besorgen, um sie an allen acht Tagen genießen zu können.

Heiligkeit Einige könnten vielleicht den Kopf schütteln, wenn sie gleichzeitig über die Heilstat des Herrn und das Knabbern der Mazze als Mizwa hören. Wie kann man die heilige Handlung G’ttes und das Profane, das Verspeisen der knusprigen Mazze, in einem Atemzug erwähnen?

Es wäre allzu einfach, zu antworten, dass wir ständig bestrebt sind, gerade diese Trennung zwischen Heiligem und Profanem aufzuheben, das Profane und Alltägliche dem Heiligen zuzuführen. Ich könnte aber auch meine christlichen Leser darauf hinweisen, dass das Brot oder die Hostie, die sie beim Abendmahl zu sich nehmen, nichts anderes als eine umgewandelte, christianisierte Gestalt der Mazze ist. Beim letzten Abendmahl, zur Pessachzeit im Heiligen Land, brach Jesus in der Gesellschaft seiner Jünger nämlich nichts anderes als die Mazze. Ein Blick in die Evangelien könnte jeden Zweifler sofort überzeugen.

Im 5. Buch Mose (16, 1–3) lesen wir: »Beachte den Frühlingsmonat ... Du sollst (am Feste) nichts Gesäuertes essen, sieben Tage sollst du ungesäuertes Brot zu dir nehmen. Das Brot des Elends – denn in Eile bist du aus dem Lande Ägypten hinausgezogen ...« Unsere Weisen bemerken, dass diese Stelle der Tora zwei unterschiedliche Begründungen für den verbindlichen Verzehr der Mazze anführt: Erstens setzt die Bezeichnung »Brot des Elends« die Verpflichtung zur Erinnerung an frühere Not ein. Zweitens die Erinnerung an die Hast des Auszugs, an die eilige Befreiung.

Zwei unterschiedliche Gründe für ein Gebot anzugeben, ist ungewöhnlich, führten die Gelehrten aus. Es sei denn, es geschieht aus einem besonderen Grund. Und sie meinten auch, den Sinn in der späteren, wechselvollen Geschichte Israels gefunden zu haben. Dieses Gebot hat, so betonen sie, eine erzieherische Komponente.

Als die Israeliten früher, ohne jegliche Gefährdung von außen, als freie Menschen in ihrem Lande lebten, war für sie die Mazze eine Erinnerung an das »Brot des Elends« der früheren Zeiten der Unterdrückung. Diese immer wiederholte Erinnerung sollte sie davor bewahren, zu glauben, dass der jetzige Zustand der Freiheit ein immer und ewig währender sei.

Es sollte vergegenwärtigt werden, dass er nur aus der Not heraus erkämpft wurde. Diese Not müsse man sich auch in Zeiten des eigenen Wohlergehens vor Augen halten, um mit den Gütern nicht verschwenderisch umzugehen und für die Not der anderen immer Hellhörigkeit und Hilfsbereitschaft zu zeigen.

Diaspora Wie erwähnt, verbanden die Gelehrten die zweite Begründung des Gebots, Mazze zu essen, mit dem Hinweis: »In Eile bist du aus dem Lande Ägypten hinausgezogen«. Dieser erinnert an jene Zeiten, als sie in der Diaspora als geduldete, oft geknechtete Minderheit lebten. Oder sie leben dort immer noch – wo sie sich auch immer befinden mögen, sollten sie sich durch die Mazze an die einstige Heilstat G’ttes erinnern.

Die Rabbinen schließen ihre Lehre mit den Worten: In der Diaspora der Israeliten hat das gemeinsame Verspeisen von Mazze sie davor bewahrt, zu verzagen und die Hoffnung auf die Freiheit aufzugeben. In diese Richtung zeigt auch die Fortsetzung des zuvor erwähnten Schriftverses (5. Buch Mose 16,3): »Damit du des Tages deines Auszuges aus Ägypten gedenken sollst. Alle Tage deines Lebens.«

Die Erinnerung an das Vergangene ist demnach eine Verpflichtung, sowohl in bösen als auch in guten Zeiten. Die Erinnerung muss nur einen »Auslöser« haben. Dieser ist das Verspeisen der Mazze. Das Gedächtnis kann mit der Zeit schwächer werden. Der Magen aber ist ein guter »Erinnerer«.
Die Mazzen werden heutzutage in Fabriken, unter Aufsicht des örtlichen Rabbinats, nicht selten durch elektronisch gesteuerte Maschinen und Öfen hergestellt.

Dies wäre eigentlich kaum erwähnenswert, doch noch zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts lehnten bedeutende Rabbiner die maschinelle Mazzebäckerei strikt ab. Eine Weile dachte man, dass die maschinelle Verarbeitung jene Gärungsprozesse, die es unbedingt zu verhindern gilt, nicht hätte ausschließen können. Dies war jedoch nicht der wahre Grund.

Die Rabbinen waren ausschließlich aus sozialen Überlegungen gegen die Automatisierung. Sie befürchteten, dass viele arme Menschen ihren Lebensunterhalt über die strenge Winterzeit verlieren könnten, wenn man die Maschinen einführen würde. Deshalb sprachen sie sich gegen die »rituelle Reinheit« der maschinell gebackenen Mazze aus.

Motivation
Manche Gelehrte hatten noch einen Einwand, ihnen ging es um die Motivation. Denn die Herstellungsabläufe, also das Kneten und Backen des täglichen Brotes, sind für den frommen jüdischen Menschen, der das Brot dann bei einem Segensspruch bricht, völlig belanglos. Wichtig ist nur, dass das Brot keinerlei für ihn verbotene Substanzen beinhaltet.

Ganz anders verhält es sich mit den Mazzen. Diese herzustellen – auf vorgeschriebene Weise aus Wasser und Weizenmehl, anschließend im heißen Ofen gebacken –, stellt vor allem eine Mizwa, also eine religiöse Pflichterfüllung aus der Tora, dar. Eine Mizwa setzt aber die »Kawana«, die Motivation, voraus. Es geht um die Intention, die Konzentration des Bewusstseins, dass man eine heilige Pflicht erfüllt.

Dazu sind nicht einmal die modernsten Maschinen in der Lage. Dies ist nur dem pflichtbewussten, religiösen Menschen inne. Aus diesem Grunde aber nehmen sich die besonders gesetzestreuen Männer und Frauen am Rüsttage des Festes Zeit und Mühe und stellen unter Psalmgesängen und Segenssprüchen handgefertigte Mazzen her, zumindest für die Sederabende.

Unsere soziale Verpflichtung den Ärmeren gegenüber wurde im Vorfeld des Pessachfestes besonders ernst genommen. Ein jeder war dazu aufgerufen, für eine vorschriftsmäßige rituelle Ausstattung der sozial Schwächeren Sorge zu tragen. Die meisten Gemeinden hatten ihre Sonderfonds, aus denen sie betont unbürokratisch, ohne die Notleidenden zu beschämen, diesen die »Maot Chittin«, die »Getreidezulagen«, vor dem Fest zukommen ließen. Die große physische Not ist heute, G’tt sei Dank, nicht zu beklagen.

Ein jeder, der will, kann sich auch die Mazze für das Fest leisten. Was uns dagegen mit größerer Sorge erfüllt, ist der Mangel an jüdischem Wissen. Dieses Wissen über unsere Feste ist zur eigentlichen Mangelware geworden. Um diesen Zustand zu beheben und sozusagen auch unsere Herzen von Chametz zu befreien, bedarf es all unserer Anstrengungen.

Der Autor war bis 2002 Landesrabbiner von Württemberg.

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