Viele zeitgenössische Leser der Hebräischen Bibel glauben, gerade bei dem Verbot »Du sollst nicht ehebrechen!« (2. Buch Mose 20,13) keine umschweifigen Erklärungen zu benötigen, um zu verstehen, worum es hier eigentlich geht. Nämlich um den Schutz einer verheirateten Person vor den sexuellen Eskapaden – sprich: der Untreue – ihres Ehepartners.
Und so ganz falsch ist diese Annahme natürlich nicht. Allerdings entspricht sie nicht der biblischen Definition des Ehebruchs. Was also meint die Tora, wenn sie von Ehebruch spricht? Und wer oder was soll dadurch geschützt werden?
Eine Ehefrau bricht bei außerehelichem Sex das Gebot. Ein verheirateter Mann nicht zwangsläufig.
Die traditionelle Definition des Ehebruchs im Rahmen des Dekalogs meint den Geschlechtsverkehr einer verheirateten Frau mit einem Mann, der nicht ihr Ehemann ist. Und zwar ausschließlich! Das bedeutet also, dass ein unverheirateter Mann mit einer verheirateten Frau die Ehe brechen kann, während eine unverheiratete Frau dies mit einem verheirateten Mann per definitionem nicht kann. Umgekehrt bricht eine verheiratete Frau bei außerehelichem Geschlechtsverkehr immer das siebte Gebot, während dies für einen verheiraten Mann nicht zwangsläufig gilt.
Nun dürfte es sicherlich nicht wenige geben – und zwar verständlicherweise vor allem Frauen –, die ob dieser vermeintlichen Ungerechtigkeit ihrer Empörung Ausdruck verleihen möchten. Und doch sollte man keine voreiligen Schlüsse ziehen, sondern sich die Sache im historischen Zusammenhang erst einmal genauer anschauen.
Die Tora entstand in einer Zeit, die von patriarchalen Gesellschaftsordnungen geprägt war. In einer Epoche, in der Männer an der Spitze sozialer Hierarchien standen und das soziale Leben der Gemeinschaft bestimmten. In Kulturen, für die die Polygamie, also die Vielehe, so selbstverständlich war wie der Glaube an verschiedene Götter.
Nebenfrauen Damals nahm die Geschichte des jüdischen Volkes ihre zarten Anfänge, weswegen es nicht verwundern muss, dass auch die Tora von männlichen Protagonisten berichtet, die meist mehr als eine Ehefrau hatten. Von Nebenfrauen ganz zu schweigen.
Nun könnte man natürlich fragen, warum die Tora, die in vielen anderen Fällen den kompletten Bruch mit den Praktiken und Bräuchen damaliger Kulturen gefordert hat, in diesem Fall schwieg. Mit anderen Worten: Warum wurde die Vielehe nicht einfach verboten? Um das zu verstehen, muss man die gesellschaftlichen Begleitumstände ebenso berücksichtigen wie die einzigartige Art und Weise, in der die Hebräische Bibel mitunter Lern- und Veränderungsprozesse bewirkt. Denn obwohl die Tora manch radikalen Bruch wagt und einige revolutionäre Ideen bereithält, wird in vielen anderen Fällen ein evolutionärer Prozess angestoßen.
Zivilisationen, Gemeinschaften und Menschen als solche lassen sich meist weder nach Belieben noch über Nacht verändern. Wer wüsste das besser als G’tt selbst? Lang praktizierte und eingeübte Verhaltensweisen können nicht ohne Weiteres durch neue Gesetzesvorschriften abgeschafft werden. Deshalb ist die Vorstellung, man könnte die Welt, die Gesellschaft, den Menschen von einem auf den anderen Tag völlig umkrempeln, bloßes Wunschdenken, das in der Realität häufig eine komplette Bruchlandung erfährt.
Was es stattdessen braucht, ist Zeit, Geduld und die langsame, behutsame, aber dennoch kontinuierliche Veränderung menschlichen Handelns, Denkens und Fühlens.
revolution Zugegeben: In der Absicht, ein neues Volk unter der Herrschaft G’ttes zu formen, war mitunter auch die Revolution, die völlige Abkehr vom Bisherigen, der radikale Bruch mit dem Konventionellen nötig. So musste unter anderem der eine G’tt auch als Einziger akzeptiert werden, musste Abgöttern und Götzen ohne Wenn und Aber abgeschworen werden, mussten menschenfeindliche Praktiken wie etwa das Menschenopfer ein für alle Mal verbannt werden, und es musste ein einziger Gesetzeskodex als verbindlich akzeptiert werden.
Gleichzeitig war aber glasklar, dass es weit verbreitete Bräuche gab, von denen man sich nicht ohne Weiteres hätte abwenden können. Praktiken, die im kollektiven Gedächtnis verankert und im Alltag so allgegenwärtig waren, dass ein plötzliches Verbot derselben keine allgemeine Akzeptanz unter den Israeliten gefunden hätte. Verhaltensweisen, deren kompromisslose Ächtung in der Praxis schlicht nicht umgesetzt worden wäre.
Die Tora wählt in solchen Fällen deshalb einen anderen Weg – einen Weg, der der Natur des Menschen viel eher entspricht; der Rücksicht darauf nimmt, dass eine allmähliche und behutsame Veränderung auf lange Sicht erfolgversprechender und tiefgreifender ist, selbst wenn sie mitunter Hunderte von Jahren in Anspruch nimmt.
Die Vielehe wird deshalb in der Hebräischen Bibel nicht verboten, nicht verurteilt, nicht rundheraus verbannt – was damals angesichts der breiten Akzeptanz dieser Praxis auch völlig nutzlos gewesen wäre.
Die Polygamie wurde in der jüdischen Praxis erst im Mittelalter abgeschafft.
Wer die Erzählungen der Tora jedoch genauer betrachtet, der wird schnell feststellen, dass es keinen einzigen Fall gibt, in dem die Vielehe gut wegkommt. An keiner Stelle wird diese Form des familiären Zusammenlebens positiv dargestellt. Und das ist auch kein Wunder. Denn Liebe lässt sich nicht paritätisch zwischen mehreren Ehefrauen aufteilen. Zumindest nicht im wahren Leben. Und deshalb führt die Ehe mit mehreren Frauen oder Nebenfrauen stets zu Problemen, zu emotionalen Verletzungen und bisweilen zu zwischenmenschlichen Tragödien.
Wer sich die mitunter tragischen Geschichten also vergegenwärtigt, muss kein Bibelexperte sein, um zu erkennen, dass die Vielehe alles andere als den Idealzustand ehelichen Zusammenseins darstellt. Anstatt diese Eheform nun aber rundheraus zu verbieten, setzt die Tora stattdessen auf die Kraft der Erzählung, auf den wachsenden Erfahrungshorizont und die Eigenverantwortung des Menschen und auf die moralische Werteerziehung, die durch die Befolgung der g’ttlichen Lehre kultiviert wird.
All dies hat dazu geführt, dass die Polygamie in der jüdischen Praxis nicht nur zunehmend an Boden verlor und immer seltener praktiziert wurde, sondern vor gut 1000 Jahren durch Rabbiner Gerschom aus Mainz endlich auch juristisch und faktisch abgeschafft wurde.
Strafe Dennoch dürfte nun klarer geworden sein, weswegen der Ehebruch ursprünglich nur dann angenommen werden konnte, wenn eine verheiratete Frau mit von der Partie war – wobei die Strafe für beide Ehebrecher dieselbe war. Das klassische Verständnis des Ehebruchs jedenfalls war auch in anderen Kulturen des Altertums gängig und wurde dort vor allem als Verbrechen gegen den gehörnten Ehemann begriffen. Es stand deshalb auch in seiner Macht, die Ehebrecher zu bestrafen oder ihnen zu vergeben.
Geschützt wird also nicht nur der Ehemann, sondern vor allem die Institution der Ehe als solche.
Die Tora sah dies freilich ganz anders: Aus biblischer Sicht nämlich war der Ehebruch nicht nur ein Vergehen gegenüber dem betrogenen Partner, sondern außerdem ein Vergehen gegenüber G’tt selbst.
Geschützt wird also nicht nur der Ehemann, sondern vor allem die Institution der Ehe als solche. Sprich: die von dem Ewigen vorgesehene heilige Verbindung zwischen Mann und Frau. Deshalb ist es auch irrelevant, ob ein Partner von dem Ehebruch erfährt oder nicht. Und es ist genauso irrelevant, ob er vorher einwilligt oder ihn später verzeiht. Denn was in jedem Fall Schaden nimmt, ist die Ehe als Institution.
In ihr wiederholt sich in jedem einzelnen Fall, was bereits in der Schöpfungsgeschichte anklingt: Mann und Frau verbinden sich zu einem Fleisch. Ergänzen und vervollständigen sich gegenseitig. Sind sich Gegenpart und Helfer zugleich. Und werden dabei aus ihrer existenziellen Einsamkeit befreit.
Der israelische Schriftsteller David Hazony schreibt dazu, dass die Ehe nicht nur Liebe ist, sondern eine Institution, eine öffentliche Deklaration, ein Vertrag. Ihre Bestimmung ist Liebe, aber als Institution führt sie ein Eigenleben. Es ist schlicht »die wichtigste menschliche Institution, die je entwickelt wurde« (David Hazony: The Ten Commandments. How our most ancient text can renew modern life). Diese geheiligte Partnerschaft, diese Verbindung von Mann und Frau, ist aber noch so viel mehr: Aus ihr entspringt die Familie, die im Judentum von zentraler Bedeutung ist und als wesentlicher Baustein zivilisierter und kultivierter Gesellschaften gilt.
Stabilität Der amerikanische Autor Dennis Prager führt dazu aus, dass die Familie vor allem deshalb so wichtig sei, weil ohne sie soziale Stabilität unmöglich ist; dass die Weitergabe gesellschaftlicher Werte von Generation zu Generation sonst unmöglich wäre; und dass schließlich die Familie der beste Ort sei, um Kindern eine sichere und stabile Kindheit zu bieten.
Sowohl die Ehe als Institution als auch die daraus entstehende Familie stehen im Fall des Ehebruchs auf dem Spiel. Sie werden angegriffen, destabilisiert und entwertet. Und die Konsequenzen treffen nicht nur den betrogenen Partner und die gemeinsamen Kinder. Die Konsequenzen treffen schlussendlich die Gesellschaft als solche.
Ehebruch ist ein Vergehen nicht nur gegen den betrogenen Partner, sondern gegen G’tt.
Übrigens: Die traditionelle Definition des Ehebruchs wurde schon bald erweitert. Und zwar nicht nur mit Blick auf die Vielfalt denkbarer sexueller Praktiken, sondern auch mit Blick auf beide Ehepartner. Denn so nachvollziehbar die traditionelle Definition des Ehebruchs auch ist, so notwendig war mit der Zeit deren Anpassung und Ausweitung – zum Schutz beider Ehepartner, zum Schutz der Ehe als solcher und zum Schutz der Familie. Schließlich liegen all diese in G’ttes ureigenem Interesse.
Der Autor ist Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.