In der Londoner U-Bahn, vor einigen Wochen: Mir gegenüber sitzen zwei gleichaltrige Männer. Der eine teilt dem anderen aufgeregt eine vollkommen überraschende Sensation mit. Sie lässt auch mich aufhorchen. »Ich habe eine Nachricht bekommen; nicht über Facebook; es war eine SMS, es war an mich persönlich!«
Facebook definiert Freundschaft neu. Wir erfahren nun auf die Sekunde, was unseren Freunden gefällt, kommentieren ihre Befindlichkeiten und lesen die Kommentare der Freunde unserer Freunde. Neidisch blickt man auf die 1867 Freunde eines Freundes, man selbst hat doch nur 820. Freundschaft beginnt mit einem Klick und endet mit der »Entfreundung«.
Talmud Was lehrt das Judentum über Freundschaft? Eine Wendung im Talmud klingt, als ob sie Facebook schon vorweggenommen hätte: »Dein Freund hat einen Freund, und der Freund deines Freundes hat einen Freund« (zum Beispiel Baba Batra 28b, 29a). Die Wendung wurde in jüdischen Kreisen sprichwörtlich: eine Warnung vor leichtfertiger Rede.
Persönliche Nachrichten werden rasch öffentlich. Im Talmud meint der Satz, jemand soll vor Gericht nicht behaupten, er habe bei einer Sache keinen Einspruch einlegen können, weil er nicht anwesend war. Denn »dein Freund hat einen Freund, und der Freund deines Freundes hat einen Freund« – niemand soll so tun, als hätte sich die Sache nicht herumgesprochen. Abgesehen von dieser zum Sprichwort gewordenen talmudischen Wendung – was ist Freundschaft aus jüdischer Sicht? Wie man sich denken kann: sehr vieles.
Begegnung Für den Philosophen Martin Buber (1878–1965) macht die Begegnung das eigentliche Wesen des Menschen aus. Er schrieb: »Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du. Alles wirkliche Leben ist Begegnung« (Ich und Du, 1923). Dies ist nicht nur eine philosophische Erkenntnis, sondern auch eine religiöse.
Schon die ersten Worte des Morgengebets bringen das Leben als Begegnung zum Ausdruck: »Ich danke dir Gott, dass du mir (nach der Nacht) die Seele zurückgegeben hast, groß ist dein Wohlwollen«, wenig später gefolgt von der Bitte: »Halte von bösen Menschen und von schlechten Freunden (chawer ra) uns fern. (...) Lass uns heute und jeden Tag Wohlwollen, Liebe und Nachsicht finden in deinen Augen und in den Augen aller, die uns sehen.« Die Tora – und die gesamte jüdische Tradition – zielt darauf ab, in guten Beziehungen zu leben, in guter Beziehung zu Gott und in guter Beziehung zum Mitmenschen. Was macht den Mitmenschen zum Freund?
Mischna »Schaffe dir einen Lehrer und erwirb dir einen Freund« (Avot 1,6) lehrt die Mischna (um 200), das nach der Tora älteste Dokument des Judentums, und eröffnet damit eine Debatte: Was ist ein Freund, ein Chawer? Die einen sagen, jemand, von dem man lernt. Nach dem klassischen Modell jüdischen Lernens studiert man »in Chawruta« indem man mit einem Freund (Chawer) gemeinsam einen religiösen Text liest und diskutiert. Mit Freunden lernt man auf gleicher Ebene, ein Lehrer (Raw) hat einen Wissensvorsprung, über dessen Lehren man mit Freunden diskutiert.
Daniel Lichman, ein Student des Leo Baeck College in London, sagte im Namen seines Mitbewohners Gal Farhi: »Letztlich ist der Talmud eine Facebook-Seite; jemand postet eine Meinung, und andere kommentieren.« Tatsächlich besteht die jüdische Tradition im Grunde aus den Kommentaren von Freunden zu den »posts« früherer Generationen. Doch auch bei Facebook geht es nicht nur um das »Teilen« interessanter Links und deren Kommentare. Viel häufiger postet man seine gegenwärtigen Stimmungen an seine 23 oder 1763 Freunde.
»Rabbi Jochanan fragte seine Schüler einmal: ›Worauf sollte der Mensch im Leben den größten Wert legen?‹ Rabbi Elieser sagte: ›Einen wohlwollenden Blick zu haben.‹ Rabbi Jehoschua sagte: ›Ein guter Freund (chawer tow) zu sein.‹ Rabbi Schimon sagte: ›Die Zukunft im Voraus zu bedenken.‹ Rabbi Eleasar sagte: ›Ein gutes Herz zu haben.‹ Er antwortete ihnen: ›Ich gebe den Worten von Rabbi Eleasar den Vorzug, denn in seinen Worten sind alle eure Worte enthalten.‹« (Mischna Awot 2,13).
Das Wort »guter Freund« kommentierte ein Rabbiner des 19. Jahrhunderts, Selig Bamberger, so: »Betätige Menschenliebe und Menschenfreundlichkeit. Sei hilfreich, gut und edel gegen jeden Menschen; nütze deinem Nebenmenschen auch dadurch, dass du ihn auf wahrgenommene Fehler aufmerksam machst, damit auch andere in gleicher Weise veredelnden Einfluss auf dich üben werden« (Pirke Awot. Die Sprüche der Väter, 2,13).
Charakter Das zuletzt Gesagte ist hochinteressant. Facebook-Freunde sind die Gemeinschaft derer, denen bestimmte Äußerungen gefallen; man kann nirgendwo klicken »Gefällt mir nicht«. Für Rabbiner Bamberger ist Kritik jedoch ein wesentliches Merkmal einer Freundschaft. Sie veredelt den Charakter und lässt Freunde aneinander reifen. Dieses Sich-Miteinander-Entwickeln ist ebenfalls eine Form des Lernens, oft viel schwerer als gemeinsames Lernen von Texten. Es setzt das Vertrauen voraus, das nur innerhalb einer Freundschaft gegeben ist: Das Wissen, dass der andere nicht verletzt, sondern fördert.
Der jüdische Philosoph Siegfried Kracauer (1889–1966) meinte, die verschiedenen Wesenszüge eines Menschen könnten sich mit vielen verschiedenen anderen Menschen verbinden. Je innerlich reicher ein Mensch sei, desto mehr Beziehungsmöglichkeiten habe er. Doch die meisten Beziehungen blieben Bekanntschaften: Personen, mit denen man nur den einen oder anderen Aspekt seines Wesens teilt. Man würde von diesen nicht zu viel erwarten und auch selbst nicht viel geben.
Manchmal jedoch treffe man Menschen, die einem ihrem Wesen nach sehr nahestehen. »Ihre Verbindung wird zur wahrhaften Gesinnungs- und Idealgemeinschaft, wenn sie sich in allen Tiefen ihres Wesens begegnen, sie bleibt als mittlere Freundschaft – damit meint Kracauer die ›Bekanntschaft‹ – in eigentümlicher Weise beschränkt, wenn nur einzelne Seiten der Seelen sich erschließen können. (...)
Während so der mittleren Freundschaften – der Bekanntschaften – leicht mehrere sein können, bleibt die ideale Freundschaft aus äußeren und inneren Gründen meist auf eine einzige beschränkt, wenn auch in verschiedenen Lebensperioden eine die andere ablösen mag.« (Gedanken über Freundschaft, in: FS Rabbiner Dr. Nobel, 1921, 30–31,33). Bekannte hat man also sehr viele, Freunde einige, aber man kann nur eine einzige enge Freundschaft haben.
Erinnerung »Er ist in meinem Alter, doch er sieht älter aus. Er wirkt, als trüge er die Lasten der Jahrhunderte auf seinen Schultern. Er trägt chassidische Kleidung und hat einen Bart, sein graues Haar hat weiße Strähnen. Seine buschigen Augenbrauen, sein sanfter, doch durchdringender Blick, alles an ihm rührt mich. Er ist mein Freund – und er macht mir Angst«, so beschreibt Elie Wiesel seinen Freund aus Brooklyn (Festschrift W. Gunther Plaut, 1982).
Dabei geht es um einen Menschen, den er erst nach der Schoa kennenlernte, bei dem sich herausstellte, dass beide unwissend voneinander in demselben Lager in derselben Baracke denselben Hunger und denselben Terror überlebt hatten. Sein Freund weckt Erinnerungen, die er lieber verdrängt hätte, und stellt Wiesels eigenes Lebenskonzept infrage; der Freund wurde religiös, Elie Wiesel politischer Aktivist. Doch beide bleiben verbunden durch enge Freundschaft, getragen durch gemeinsame Erinnerung und geteilte Gefühle.
Mosche Lew von Sassow, ein chassidischer Rebbe, sagte einmal, er habe echte Freundschaft von einem Bauern gelernt, der mit seinem Freund in einer kalten Winternacht in einer kleinen Kneipe saß. Er habe den Mann ihm gegenüber gefragt: »Sag mir, magst du mich?«, und der andere, ein Freund seit Kindertagen, habe schnell geantwortet: »Klar mag ich dich!« Doch der Fragende fuhr fort: »Du sagst, du magst mich, aber weißt du, was mich kränkt?« Darauf antwortete der andere, er wisse es nicht. Nach einem Augenblick peinlicher Stille meinte der Bauer dann sehr traurig: »Wenn du nicht weißt, was mich kränkt, dann kannst du mich auch nicht wirklich mögen.«
Was nun ist Freundschaft im Judentum? Eine Lerngemeinschaft? Eine Schicksalsgemeinschaft? Ein Netzwerk derer, denen gefällt, was ich meine? Rabbiner Neil Kraft, seit 2002 Rabbiner einer der größten Reformgemeinden Londons, schreibt in seinem Gemeindebrief vom April 2013: »Im Judentum ist Gott unser bester Freund: beständig, nicht nachtragend, sondern versöhnlich, verständnisvoll und vertrauenswürdig. Er kennt unsere Verletzbarkeit und unsere Schwächen, aber liebt uns trotz unserer selbst. Gott schätzt und achtet uns sehr, weil wir als einzigartig geschaffen sind, einmalig. Jede menschliche Beziehung gründet sich in ähnlicher Weise auf dieses Grundmuster der Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf.«
GEDÄCHTNIS Ein guter Freund und eine gute Freundin ist ein Mensch, der sich mitfreut, wenn wir uns freuen, der mit uns weint, wenn wir weinen, der unsere Verletzungen versteht und uns hilft, Ziele zu erkämpfen. Doch bleiben wir realistisch: »Menschen, die fehlerfreie Freunde suchen, werden keine haben«, meint Rabbiner Kraft. »Wenn wir lange Freundschaften möchten, brauchen wir ein kurzes Gedächtnis.«
Und damit hat er recht, denn Freundschaften sind schon immer Verbindungen zwischen unvollkommenen Menschen gewesen. Wir alle haben schon Dinge gesagt, die wir nicht so meinen. Manchmal sind wir gedankenlos und vergesslich, grantig oder dumm. Sogar die engsten Freunde können uns hängen lassen. Doch wie der Londoner Rabbiner richtig bemerkt, sollten wir unseren Freunden vieles nachsehen, weil auch sie schon viel für uns getan haben: »In solchen Momenten der Enttäuschung sollten wir uns daran erinnern, dass da ein Mensch ist, der bisher immer für uns da war, und der es auch in Zukunft sein wird.«
Ohne wahre Freundschaft werden wir nicht glücklich – so sehen es die meisten jüdischen Gelehrten seit den Zeiten der Mischna bis heute. Und die Worte Martin Bubers »Ich werde am Du« haben auch im Facebook-Zeitalter nichts von ihrer Gültigkeit verloren.