Perspektive

Das Schöne ist kein Selbstzweck

Im Auge der Betrachterin: ein Bild des amerikanischen Künstlers Mark Rothko (Untitled 2) Foto: dpa

Nach ihrem Treffen mit Rabbi Jehoschua ben Chanania proklamierte eine römische Kaisertochter: »Welch schöne Weisheit in einem so hässlichen Fass.« Rabbi Jehoschua war nicht verärgert, im Gegenteil.

Er diskutierte mit dem Mädchen: »Wo lagert dein Vater seinen Wein?« »In irdenen Gefäßen, wo sonst?«, antwortete sie. »Gut«, fuhr Rabbi Jehoschua fort, »aber ein Kaiser könnte seinen Wein auch in Gold- und Silberfässern aufbewahren.« So gesagt, so getan. Der Wein wurde sauer und der Kaiser wütend.

Wein Seine Tochter gestand, von wem der Vorschlag kam, Wein in Goldfässern zu lagern. Rabbi Jehoschua musste vor dem Kaiser erscheinen, um seinen bemerkenswerten Rat zu erläutern. Rabbi Jehoschua erklärte, dass er den Kommentar der Tochter des Kaisers nur auf eine andere Ebene übertragen habe, um ihr klarzumachen, dass Weisheit und Schönheit nicht zusammenpassen.

Der Kaiser fragte dann, ob diese Lehre verallgemeinert werden könne: »Es gibt doch schöne Männer, die viel gelernt haben?« Aber Rabbi Jehoschua antwortete: »Wenn sie hässlicher wären, hätten sie mehr gelernt!« (Talmud, Ta’anit 7a, Nedarim 50b).

ARISTOTELES Ästhetik und Judentum scheinen Gegensätze zu sein. Sokrates empfahl den klassischen griechischen Künstlern, besonders den Ausdruck von Seelenzuständen zu verfolgen. Gegenüber dem Postulat der Kunst als Repräsentation der Wirklichkeit argumentierte Aristoteles, dass die Kunst die Schönheit des Allgemeinen durch die Eliminierung des Nebensächlichen offenbaren sollte.

Im traditionellen jüdischen Milieu wurde der Ästhetik bis ins 20. Jahrhundert jedoch kaum Beachtung geschenkt. Für Hegel hatten die Juden keinen Sinn für künstlerische Kreativität. Stimmt das? Weder in der großen jüdischen Enzyklopädie noch in der berühmten Encyclopedia Judaica lässt sich etwas über Ästhetik finden. Es fällt auch auf, dass keiner der Autoren, die über jüdische Kunst publizierten – ich nenne de Saulcy, Frauberger, Goodenough und Albright –, jüdisch war.

erlebnisse War es nicht genug für die jüdischen Gelehrten, sich an der Schönheitserfahrung als solcher zu beteiligen? Vergeblich sucht man nach einer theoretischen Abhandlung über die Natur der Schönheit. Aber hier und da achtet der Talmud sehr wohl auf subjektive Schönheitserlebnisse. Das Interesse ist nicht so sehr auf die tatsächlichen Eigenschaften der Schönheit gerichtet, sondern vielmehr auf das, was in der Person passiert, die die Schönheit genießt.

Maimonides empfahl das Betrachten schöner Gegenstände zur Entspannung des Geistes.

In Berachot 20b erklärt der Talmud, dass »drei Dinge den Geist erweitern: ein schönes Zuhause, eine schöne Ehefrau und schöne Objekte«. In seinen Acht Kapiteln entwickelt Maimonides denselben Gedanken: »Der Geist muss sich entspannen, indem er Gemälde und andere schöne Objekte betrachtet. Innere Pflege und Dekoration mit Gemälden und Stickereien sollten nicht als oberflächlich oder unmoralisch betrachtet werden.« Ein wenig weiter im Traktat Berachot (58a) ist noch vorgeschrieben, dass man, wenn man schöne Geschöpfe oder schöne Bäume sieht, die Beracha »Gesegnet sei Er, der solche Dinge in Seiner Welt hat« aussprechen soll.

Die Midrasch-Sammlung Schemot Rabba (15,22) fügt noch hinzu: »Wenn ihr eine schöne Säule seht, dann sagt: Gelobt sei der Steinbruch, aus dem sie geschnitten wurde. Die Welt ist schön. Gelobt sei G’tt, der die Welt durch Sein Wort geschaffen hat. Glücklich bist du, oh Welt, jetzt, da G’tt dein König ist.«

Als in der Wüste das Tabernakel gebaut wurde, wurde eine Decke von geringerer Qualität über den schönen Zeltüberzug gehängt, der von allen Seiten leicht überdeckt wurde, damit der Boden nicht beschädigt wurde.

Raschi Kein Geringerer als Raschi (1040–1105) sieht darin eine Lektion in Verfeinerung: »Die Tora lehrt hier, dass man die Schönheit weise gebrauchen muss.« Schönheit wird geschätzt, aber nicht verklärt. Die literarische Schönheit Griechenlands hat sogar einen offiziellen Platz in der Tora bekommen. Gemäß Rabban Schimon ben Gamliel (2. Jahrhundert n.d.Z.) ist die einzige Sprache, in die die Tora unter Erhaltung ihrer Heiligkeit übersetzt werden kann, Griechisch – mit dem Hinweis, dass die griechische literarische Schönheit einen Platz in den Zelten Sems hat (1. Buch Mose 9,27).

Physische Schönheit erhielt auch die Aufmerksamkeit der Weisen. Im 3. Buch Mose 21,10 lesen wir von einem Kohen-Priester, der »größer ist als seine Brüder«. Im Talmudtraktat Horajot (9b) wird gefragt, inwieweit sich der Hohepriester von den anderen Kohanim unterscheidet. Die Antwort lautet, dass er sich durch körperliche Schönheit und Stärke, durch Weisheit und Reichtum auszeichnen muss. Nur mit diesen Eigenschaften könne man sich für das höchste religiöse Amt innerhalb des Judentums qualifizieren.

Im 17. Jahrhundert schrieb Rabbi Isaiah Horowitz mit seinen Schnej Luchot Ha­brit (Die zwei Bundestafeln), einem Werk, das erstmals 1698 in Amsterdam gedruckt wurde, eine Art ethisches Vermächtnis für seine Kinder. Eine seiner Vorgaben besagt, dass die Bücher, aus denen man lernt, schön gebunden und schön kalligrafiert sein müssen: »Das Studium muss angenehm sein!«

VERELENDUNG Dennoch haben Historiker seit dem 18. Jahrhundert große Gleichgültigkeit und Desinteresse an der Ästhetik beobachtet. Dies ist wahrscheinlich eine Folge der massiven Verelendung der Juden in Europa. Sie durften keine öffentlichen Ämter halten und mussten in grässlichen Ghettos wohnen. Verstoßen von der Gesellschaft, wurden sie gegenüber der Außenwelt gleichgültig. Aber die Isolation hatte einen positiven Einfluss auf ihr religiöses Leben.

Jüdische Kreativität konzentrierte sich lange Zeit auf die Welt der Gelehrsamkeit.

Jüdische Kreativität konzentrierte sich fast ausschließlich auf die Welt des Geistes: Von der Erfindung des Buchdrucks bis 1800 erschienen nicht weniger als 9000 verschiedene hebräische Bücher. Es gibt auch eine interessante semantische Veränderung aus dieser Zeit. Der jiddische Ausdruck »sheiner Jid« verlor seine ästhetische Konnotation. Stattdessen bekam er eine ethische Bedeutung; »a sheiner Jid« war eine fromme und weise Person.

SCHÖPFER Vor allem die Orthodoxie wird oft für einen Mangel an Kunstverstand verantwortlich gemacht. Um die angebliche Verachtung der Rabbiner für die Schönheit der Natur zu beweisen, zitiert man Rabbi Jakow durchaus korrekt: »Wer spazieren geht und das Gesetz wiederholt, aber das Studium unterbricht und sagt: ›Wie schön ist dieser Baum! Wie schön dieses Feld!‹, dem rechnet man es an, als hätte er seine Seele befleckt« (Pirkej Awot 3,9).

Kritiker vergessen jedoch, dass diese Verdammnis für jemanden gedacht ist, der sich nicht mehr der Tora widmet und nur die Natur sieht, nicht mehr den Schöpfer von allem. Die Entwicklung der ästhetischen Empfänglichkeit als Quelle der Lebensfreude oder zur Verbesserung der inneren Harmonie ist dem Judentum nicht genug. Das Gleiche gilt für Kunst und Ästhetik wie für alle anderen irdischen Phänomene: Alles muss der Entwicklung des höchsten menschlichen Aspekts dienen, der Mensch-G’tt-Beziehung.

Mizwa Die höchste Form künstlerischer Kreativität ist der Mensch als Geschöpf, geschaffen nach dem g’ttlichen Bild. Der berühmte Gelehrte Hillel (1. Jahrhundert v.d.Z.) hat das verstanden. Als er die Schule verließ, wurde er von seinen Schülern begleitet. »Meister, wohin gehst du?«, fragten sie. Hillel antwortete, dass er ein Gebot erfüllen werde. »Welche Mizwa?«, fragten die Studenten. »Ich werde baden«, antwortete Hillel. »Das ist eine Mizwa?« »Ja«, antwortete Hillel, »in den Theatern und Zirkussen sind Statuen des Kaisers. Ein leitender Beamter ist speziell damit beauftragt, die Bilder zu reinigen und zu polieren. Ich, der ich in G’ttes Ebenbild erschaffen wurde, wie es geschrieben steht (1. Mose 1,27): ›Und G’tt schuf den Menschen nach seinem Ebenbild‹, bin doch wohl verpflichtet, dieses ›Bild‹ sauber zu halten.«

Jüdische Erziehung konzentriert sich auf die Entwicklung der spirituellen Ästhetik. König Solomon lehnte Schönheit als Eitelkeit ab. Kunst und Ästhetik sind kein Selbstzweck. Aber wenn Schönheit und Kunst dazu genutzt werden, das Höhere im Menschen zu betonen, wird Verschönerung ein Gebot. Im Talmud und im Schulchan Aruch werden Kunst und Ästhetik besonders für die Unterstützung oder den Ausdruck religiöser Gefühle geschätzt.

Der Autor ist Oberrabbiner der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf.

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