Auslegung

Das Schicksal ist nicht unser Los

Warum es fast widersinnig scheint, das Buch Kohelet an Schemini Azeret in den Synagogen zu lesen

von Alfred Bodenheimer  06.10.2023 16:20 Uhr

Der Mensch besitzt die Fähigkeit, sich durch unabhängiges Handeln Ziele zu setzen und so dem Leben einen Sinn zu verleihen. Foto: Getty Images/iStockphoto

Warum es fast widersinnig scheint, das Buch Kohelet an Schemini Azeret in den Synagogen zu lesen

von Alfred Bodenheimer  06.10.2023 16:20 Uhr

Am Schabbat Chol Hamoed von Sukkot – oder wie in diesem Jahr am Schlussfest Schemini Azeret – das Buch Kohelet zu lesen, scheint auf den ersten Blick ein wenig widersinnig. Zwar ist es seit Jahrhunderten Brauch, aber der Text selbst hat über weite Strecken eine resignative, ja fast schon düstere Ausstrahlung. Dabei werden Sukkot und das dazu gehörende Schlussfest doch als »Zeit unserer Freude« bezeichnet.

Aber Rabbi Asaria Figo (1579–1647), ein italienischer Gelehrter, erkannte gerade darin einen wichtigen Zusammenhang. Die Tonlage von Kohelet, so seine Überzeugung, sollte dafür sorgen, dass die Freude nicht in eine unkontrollierte Leichtsinnigkeit ausufere.

Sonne Tatsächlich hinterfragt das Buch an einigen Stellen nichts Geringeres als den Sinn des Lebens selbst. Am deutlichsten vielleicht zeigt sich das in den Versen 2 und 3 des 4. Kapitels: »Und ich ziehe die Toten, die schon gestorben sind, den Lebenden vor, die noch leben. Und besser als beide ist, wer noch nicht da gewesen, der nicht gesehen hat das böse Tun, das unter der Sonne getan wird.«

Diesmal wird das Buch Kohelet, der »Prediger«, an Schemini Azeret in den Synagogen gelesen.

Interessanterweise hallt etwas von diesen Versen noch in der rabbinischen Literatur nach. So heißt es beispielsweise im Mischna-Traktat Awot 4,22: »Gegen deinen Willen bist du erschaffen worden, und gegen deinen Willen bist du geboren worden, und gegen deinen Willen lebst du, und gegen deinen Willen stirbst du, und gegen deinen Willen wirst du in Zukunft Rechenschaft ablegen vor dem König aller Könige, dem Heiligen, gelobt sei Er.«

In diesem Finale spiegelt die Mischna übrigens auch die Schlussverse des Buchs Kohelet wider. So wird dazu aufgerufen, sich an Gottes Gebote zu halten, »denn das ist der ganze Mensch«, um dann in den Schlusssatz zu münden, der da heißt: »Denn alles, was getan wird, wird Gott zum Gericht bringen – ob es gut ist oder böse« (Kohelet 12,14).

Leben Was aber bedeuten solche Sätze für das Selbstverständnis des Judentums? Lassen sie nicht genau das, was vom Judentum doch als höchster aller Werte betrachtet wird, nämlich das Leben selbst, als etwas Problematisches sowie von Anfang bis Ende Aufgezwungenes und mitunter Furchterregendes erscheinen? Ist womöglich das größte Unglück, das einem widerfahren kann, das Geborenwerden?

Einer der prominentesten Philosophen der jüdischen Moderne, Rabbi Joseph Dov Soloveitchik (1903–1993), hat sich mit genau dieser Problematik befasst und es mit zwei auf den ersten Blick sinnverwandten, in ihren Bedeutungen jedoch recht gegensätzlichen Begriffen verbunden, und zwar dem »Los« und dem »Schicksal«.+

So ist für ihn der Mensch, der einfach nur sein Los akzeptiert, eine Person, die »gegen ihren Willen lebt« – also nicht fähig ist, dem Leben einen eigenen Stempel aufzudrücken und darin einen Zweck zu entdecken. Ein solcher Mensch kann sich seines schöpferischen Potenzials niemals gewahr werden.

Ihm gegenüber steht der Mensch, der sich seiner Einzigartigkeit bewusst ist und durchaus die Fähigkeit besitzt, durch unabhängiges Handeln sich selbst Ziele zu setzen und so dem Leben einen Sinn zu verleihen. Dieser nimmt sein eigenes Schicksal also selbst in die Hand. Auch er wird, wie Soloveitchik betont, zwar gegen seinen Willen geboren und stirbt auch gegen seinen Willen – aber in der Zeit dazwischen führt er ein Leben, dem alle Optionen offenstehen. Soloveitchiks Äußerungen in diesem Kontext verweisen auf eine Verwandtschaft mit dem Existenzialismus, wie er beispielsweise von Albert Camus im Mythos des Sisyphos formuliert wurde. Darin fordert der Autor dazu auf, gegen die Absurditäten und die Schicksalshaftigkeit des Lebens zu revoltieren.

handlungsautonomie Der Unterschied zwischen Camus und Soloveitchik ist allerdings jener, dass der französische Schriftsteller einer Existenz durchaus Sinn abzugewinnen vermag, wobei aber bei ihm vornehmlich das persönliche Schicksal im Mittelpunkt steht. Solovei­tchik dagegen richtet den Fokus auf die Handlungsautonomie des kämpfenden Individuums und seine Einflussmöglichkeiten auf die Welt.

Die Tonlage von Kohelet soll dafür sorgen, dass die Freude nicht in Leichtsinnigkeit ausufert.

Auch wenn wir derzeit nicht wie Camus oder Soloveitchik mit Katastrophen vom Ausmaß eines Weltkriegs oder der Schoa konfrontiert sind, bewegen wir uns manchmal durchaus an Abgründen. Verschwörungstheorien, die uns als vermeintliche Opfer von undurchsichtigen Machenschaften darstellen, stehen gewissen Untergangsszenarien gegenüber, denen zufolge wir allein durch unsere bloße Existenz und unseren Verbrauch an Gütern sowie Rohstoffen mit zur Zerstörung der Erde und der Klimaerwärmung beitragen.

RECHTSTAAT Wir sehen Krieg in Europa und müssen mit der Erosion der Gewissheit fertig werden, in einem gesicherten Rechtsstaat zu leben. All das geht einher mit dem Infragestellen lang geglaubter Sicherheiten, die ein Individuum durchaus erschüttern können. Wir haben uns das gewiss nicht selbst ausgesucht, weshalb es naheliegen könnte, in genau diesen Zustand einer Resignation zu verfallen, die das Buch Kohelet zunächst ausstrahlt.

Aber erscheint es nicht ebenso möglich, mit Soloveitchik zu sagen, dass diese Bedingungen nicht unser Los sein müssen? Bekanntlich sind in jedem untergehenden System diejenigen in der Mehrheit, die »dem Bösen unter der Sonne«, wie Kohelet es nennt, einfach nur zuschauen, schweigen oder sich darin eingerichtet haben. Genau diese müssen, ja dürfen wir nicht sein.

Schließlich erwähnt die Mischna, dass wir alle am Ende Rechenschaft abzulegen haben. Das aber bedeutet: Jeder und jede Einzelne von uns hat es in seiner oder ihrer Hand, was wir aus uns und der Welt machen können.

Der Autor ist Professor für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums an der Universität Basel.

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