Vergangenen Schabbes verbrachte ich in einem jüdischen Altersheim. Es liegt etwas außerhalb der Stadt an einer ruhigen Straße am Waldrand. Es gefällt mir sehr hier. Unten in der Stadt bin ich ein niemand, aber da oben nennen mich einige Pflegerinnen »Rabbiner«. Zu Hause füllt mir meine Frau nur ungern ein drittes Mal den Teller auf (ich bin ein bisschen dick), doch im Altersheim schwirren untersetzte Filipinas um mich herum und fragen: »Noch mal?«
Ja, ich kann mir ein Leben im Altersheim durchaus vorstellen. Natürlich ist nicht alles so einfach wie das Essen. Leider. Ich werde ja auch noch für andere Tätigkeiten bezahlt. Zum Beispiel für den Morgengottesdienst.
Im Altersheim befindet sich eine kleine Synagoge. Aber etliche Pensionäre wollen nicht beten kommen. Dann muss ich manchmal in die Zimmer gehen und die alten Männer beim Fernsehen stören. »Möchten Sie nicht in die Synagoge kommen?«, frage ich stets zaghaft, »wir sind knapp.«
Mäzen Zum Glück wohnen ziemlich viele Juden in der Nähe des Altersheims. Aber auch die wollen nicht immer kommen. Wahrscheinlich ist so ein Gottesdienst im Altersheim nicht sehr attraktiv. Manchmal hört man mehr Husten als Kaddisch. Aus diesem Grund hat ein reicher Mäzen Geld gespendet, damit junge Männer von der hiesigen Talmudschule zum Altersheim kommen, um das Quorum zu füllen.
Diese jungen Männer beten stets vorne links. Sie tragen schwarze Anzüge und schwarze Hüte. Rechts von ihnen betet Herr Gallob, ein reicher liberaler Jude. Er mag die orthodoxen Männer nicht sonderlich, und die schwarze Fraktion liebt auch ihn nicht wirklich. Dazwischen stehe ich, die Schabbesvertretung. Ich muss den Frieden bewahren und Auseinandersetzungen im Minjan verhindern.
Letzten Schabbes aber kam ich leider zu spät. Gerade war ich auf Toilette, um mir ein frisches Hemd anzuziehen. Als ich in die Synagoge zurückkehre, sehe ich, wie sich Herr Gallob vor den jungen Männern aufpflanzt: »Betet endlich leiser, verdammt noch mal!« Ich renne dazwischen und versuche zu vermitteln. Doch so richtig will es mir nicht gelingen.
Gerade wechseln sich die Vorbeter ab. Ein Junge mit langen Schläfenlocken kommt vor die Bima und fährt mit dem Gottesdienst fort. Mist, denke ich und schaue zu Herrn Gallob hinüber. Seine Miene verfinstert sich.
Stimmbruch Der Junge mit den Schläfenlocken ist nämlich gerade im Stimmbruch. Er hört sich an wie Menderes von »Deutschland sucht den Superstar«. Sie wissen schon, diese Stimmgabel, die immer wieder danebenträllert. Herr Gallob kämpft mit sich, hält es aber nicht mehr aus. Er stellt sich neben den Jungen und schreit ihn an, er solle, verdammt noch mal, schöner singen. Doch es nützt nichts. Der Junge singt nicht schöner, nur lauter.
Mist, denke ich, ich habe nur noch ein einziges Hemd. Ich versuche so zu tun, als ginge mich das alles nichts an. Aber der Tumult wird immer lauter. Auf der einen Seite die Orthodoxen, auf der anderen Herr Gallob und sein Gefolge.
Ich denke an Beth Schemesch und den Streit zwischen den Ultraorthodoxen und den anderen. »Freunde«, versuche ich zu schlichten, »lasst uns doch noch bis zum Kiddusch durchhalten!« Das war nicht wirkungsvoll. Kurzerhand übernahm ich das Vorbeten. Wir befanden uns gerade beim Gebet für das Vaterland und das für Israel. »Herr im Himmel«, ich schloss kurz die Augen, »lass Frieden unter uns Juden walten, in Israel, aber auch in der Schweiz – Amen Sela.«