Eine gesetzliche Regelung zur Sterbehilfe in Deutschland ist vorerst gescheitert. Im Bundestag verfehlten zwei dafür vorgelegte Entwürfe mit Bedingungen und Voraussetzungen am Donnerstag vergangener Woche jeweils eine Mehrheit.
Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, nahm dazu Stellung und erklärte, die ausgebliebene gesetzliche Neuregelung erfordere nun eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung, bei der verstärkt auch die Religionsgemeinschaften eingebunden werden müssen. Gerade in solch ethischen Fragen sei diese Einbindung geboten und scheine notwendiger denn je.
HALACHA Insofern ist es hilfreich, auf die traditionellen Quellen des Judentums zu schauen. Eine Eingangsbemerkung: Das jüdische Religionsgesetz betrachtet das menschliche Leben als unantastbar und von unendlichem Wert. Dieser Wert ist unabhängig vom Alter, der Gebrechlichkeit, gesundheitlichen Einschränkungen oder Produktivität einer Person.
Aus diesem Grund lehnen sämtliche Quellen jede Unterscheidung zwischen einem Sterbenden (dem Gosess) und jedem anderen ab. »Der Sterbende ist in jeder Hinsicht wie ein lebender Mensch zu betrachten«, steht im Babylonischen Talmud (Semachot 1,1). Und in Rambams Kommentar zur Mischna heißt es (in Arachin 1,3): »Auch wenn er oder sie im Sterben liegt und der Tod unmittelbar bevorsteht, ist der Mensch immer noch eine Person, ein menschliches Wesen, das nach dem Bild G’ttes geschaffen wurde.«
Die Tora macht uns deutlich, dass wir unseren eigenen Körper nicht besitzen.
So viel vorab. Nun zur Frage der assistierten Selbsttötung, sei es durch einen Arzt oder »Sterbehilfeverein«. Diese lässt sich aus halachischer Sicht in verschiedene Aspekte unterteilen. Der erste betrifft die Tat des Suizids selbst. Damit verbunden ist die Frage: Wem gehört der eigene Körper? Die Entscheidung darüber bestimmt, ob wir das Recht haben, ihn zu beschädigen. Der jüdische Standpunkt ist, dass ein Mensch seinen Körper nicht besitzt – er ist für die Dauer seines Lebens eine »Leihgabe« seines Schöpfers.
Ein menschliches Leben zu nehmen, ist verboten, unabhängig davon, ob es unser eigenes ist oder das eines anderen. Die Tora macht uns deutlich, dass wir unseren eigenen Körper ebenso wenig besitzen wie den eines anderen. Obwohl im Judentum der Suizid scharf verurteilt wird, differenzieren unsere Weisen jedoch auf einfühlsame Weise. Suizid heißt auf Hebräisch »HaMeʼabed atzmo ladaʼat …«, wobei »ladaʼat« mit »im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte« übersetzt werden kann.
PSYCHE Daneben gibt es aber auch diejenigen, die aus einem Impuls heraus handeln, unter schwerer geistiger und seelischer Anspannung oder unerträglichen Schmerzen leiden, wenn sie sich das Leben nehmen, also eben nicht rational (lada’at) zu denken vermögen. Das jüdische Recht bezeichnet eine Person dieser zweiten Kategorie als »Anuss«, das heißt, als eine Person, die unter Zwang steht, sich in einer existenziellen Not befindet und daher nicht für ihre Handlungen verantwortlich ist.
Eine solche Person ist tatsächlich durch überwältigende Umstände zu dieser extremsten Maßnahme gezwungen worden; diese Handlung ist nicht der »rationale, vorsätzliche Akt der Selbsttötung«, der durch die Halacha verboten ist. Daher rührt die rabbinische Tendenz, jeden verfügbaren Vorwand auszunutzen, um zu erklären, dass eine Person, obwohl sie durch ihre eigene Hand gestorben ist, alle üblichen Trauerriten erhalten kann, die einem Selbstmörder normalerweise verwehrt sind: »Es ist höchst unwahrscheinlich, dass ein Mensch mit gesundem Verstand einen solch schrecklichen Schritt tun würde.«
Während unsere Weisen dem verzweifelten Leidenden durchaus Verständnis entgegenbringen, gibt es für den Helfer beim Suizid jedoch keine solche Entschuldigung, auch dann nicht, wenn die Handlung aus Mitgefühl und verständlich erscheinenden Motiven erfolgt.
MITGEFÜHL Rabbiner Yaakov Tzvi Mecklenburg (19. Jahrhundert) weist auf den Passus »von jedem seiner Brüder« hin und kommentiert, dass hier die Tötung nicht aus Hass oder Zorn erfolgt, sondern aus Mitgefühl und Barmherzigkeit. Dies wäre in unserem heutigen Sprachgebrauch »aktive Sterbehilfe«: »Indem die Tora sowohl die Selbsttötung als auch die Tötung eines anderen Menschen strikt verbietet, macht sie keinen Unterschied nach Motiv und Gründen. Beide gelten gleichermaßen als Mord.«
Die Gründe für diese strikte Ablehnung macht Rabbiner Yitzchak Breitowitz deutlich: »›PAS‹ (physician assisted suicide) ist die falsche Lösung für ein wirklich reales Problem. Dass ein solches Problem existiert, das leugnen wir nicht. Es gibt Probleme am Ende des Lebens, die von überwältigendem Schmerz und Leiden geprägt sind, und dem psychologischen Gefühl, dass das Leben unerträglich und wertlos ist.
Einfach wegzuschauen, wäre gefühllos und grausam. Aber was PAS bedeutet, ist dies: Ein Patient schreit auf und sagt: ›Mein Leben ist wertlos und nicht zu ertragen.‹ Und wir antworten dann: ›Ja, du hast recht, dein Leben ist wertlos, lass uns dir helfen, es zu beenden.‹ Das aber ist die falsche Aussage.«
HILFERUF Der Assistent beim Töten muss sich also in gewisser Weise mit der Aussage des Patienten identifizieren, mehr noch, er kann ignorieren, dass es sich vielleicht lediglich um einen verzweifelten Hilfeschrei nach Linderung des Leidens in all seinen Facetten handelt.
Leon Kass, Arzt, Philosoph, Torakommentator und ehemaliger Vorsitzender des President’s Council on Bioethics sagt dazu: »Die Unterscheidung zwischen der Verabreichung einer tödlichen Injektion an den Patienten und der Verabreichung von Tabletten, die der Patient in Abwesenheit des Arztes schlucken muss, ist eine Unterscheidung, die überbewertet wird. Die Ärzte machen sich mitschuldig am Tod; sie nutzen ihre Heilkraft, um Komplizen des Suizids zu werden … Der hippokratische Eid ist in gewisser Weise die erste freiwillige Selbstbeschränkung, die Ärzte ihrer Macht auferlegen, nämlich der Macht zu töten und zu heilen. Dieser Eid war bis in die heutige Zeit eine tiefe Einsicht in das, was es bedeutet, diese Art von Macht zu haben.«
Unsere Weisen haben Verständnis für den Leidenden, nicht aber für den Suizidhelfer.
Leon Kass gibt darüber hinaus noch eine düstere Prognose zu weiteren »Risiken und Nebenwirkungen« ab: »Der ärztlich assistierte Suizid wird, sobald er legal ist, nicht auf unheilbar Kranke und geistig fähige Menschen beschränkt bleiben, die ihn aus freien Stücken und wissentlich für sich selbst wählen. Es wird zu Manipulationen kommen, die Entscheidungen beeinflussen, und abgesehen davon werden viele ältere und unheilbare Menschen das Recht, sich für den Tod zu entscheiden, als ihre Pflicht empfinden, dies zu tun. Darüber hinaus fällt die überwiegende Mehrheit derjenigen, die angeblich einen ›humanen und würdigen Tod‹ ›verdienen‹, nicht in diese Kategorie und kann ihn nicht selbst herbeiführen. … Warum, so werden sie argumentieren, sollte komatösen oder dementen Menschen das Recht auf Sterbehilfe verweigert werden, nur weil sie es nicht für sich selbst in Anspruch nehmen können? Mit gerichtlich bestellten Stellvertretern werden wir den Unterschied zwischen dem Recht, über den eigenen Tod zu entscheiden, und dem Recht, den Tod eines anderen zu verlangen, schnell verwischen.«
endlichkeit Was stattdessen getan werden sollte, ist dies: »Erst wenn wir uns dem assistierten Suizid verweigern, können wir Ärzte und der Rest von uns die Gelegenheit ergreifen, das zu tun, was in Wahrheit geschehen sollte: Wir können lernen, angesichts der Endlichkeit menschlich zu handeln. Sterbende brauchen unsere Anwesenheit und unseren Zuspruch weit mehr als eine angemessene Morphiumversorgung und die Absetzung einer belastenden Chemotherapie. Der Entzug von menschlichem Kontakt, Zuneigung und Fürsorge ist die größte Einzelursache für die Dehumanisierung des Sterbens. Menschen, denen Autonomie und Würde am Herzen liegen, sollten versuchen, diese Entmenschlichung des Lebensendes zu korrigieren, anstatt der Entmenschlichung den endgültigen Triumph zu gönnen, indem sie den verzweifelten Abschied begrüßen, der in einer letzten Bitte um Gift enthalten ist. Nicht die angebliche Menschlichkeit eines Elixiers des Todes, sondern die Menschlichkeit eines in Fürsorge eingebundenen Lebens im Sterben ist das, was die Medizin – und wir alle – den Sterbenden am meisten schulden.«
Selbstverständlich erkennen wir an, dass es unter denjenigen, die ärztlich assistierten Suizid befürworten, viele gibt, die aus rein mitfühlenden Motiven heraus handeln und ehrlich überzeugt sind, das Beste zu tun.
Aber auch hier – und vielleicht besonders hier – ist ein Caveat, eine Mahnung, angebracht. In diesem Sinne überlasse ich das Schlusswort dem weltweit verehrten Rabbiner Lord Jonathan Sacks sel. A.: »Diejenigen, die den vorliegenden Gesetzesentwurf vorschlagen (er bezieht sich hier 2005 auf Großbritannien), tun dies aus den besten Motiven heraus. Aber die Reinheit der Motive hat noch nie die Richtigkeit der Ergebnisse garantiert; oft war das Gegenteil der Fall. Den Sterbenden Würde zu geben und alle möglichen Mittel zur Behandlung ihrer Schmerzen einzusetzen, ist eine Sache. Den ärztlich assistierten Suizid zuzulassen, ist eine andere. Wenn wir die Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben verlieren, werden wir eines Tages noch vieles andere verlieren.«
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).
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