Diese Zeilen schreibe ich wenige Tage vor Jom Kippur. Ich habe das Glück, meine Verfehlungen öffentlich zu machen. Das hilft bei der Buße und reinigt mein Gewissen. Vorausschicken möchte ich jedoch, dass ich jung und einfältig war. Heute bin ich eine Respektsperson und jemand, auf den man mit dem Finger zeigt: »Das ist ein ehrlicher Jude!« Doch ich trage ein schwarzes Kapitel in meiner Biografie, das ich endlich mal literarisch aufarbeiten möchte. Wahrscheinlich werden sich einige von mir abwenden, vielleicht erreiche ich aber die Herzen mancher.
Ausdauer Es hat alles mit Frauenproblemen begonnen. Ich war 20 Jahre alt, hatte keine Freundin und keinen Studentenjob. In der kleinen Synagoge, die ich schon seit Kindesbeinen besuchte, gab es im zweiten Stock so ein kleines, schiefes Zimmer ohne Licht. Es war die Geröllkammer der Gemeinde. Vermoderte Bücher, Abfallsäcke, kaputte Stühle. Auf der rechten Seite gab es ein Klappfenster. Wenn man es öffnete, sah man das Badezimmer der Nachbarin. Nochmals: Ich war gerade in einer schwierigen Lebensphase und hatte noch die Ausdauer, zwei Stunden in der Hocke zu verharren. Bis nämlich die Nachbarin kam und sich schminkte. Dann putzte sie sich die Zähne und, ähm ja, sie wusch sich sehr ordentlich. Mit einem Schwämmchen undsoweiter.
Mir hat das sehr gefallen. Andererseits wusste ich natürlich, dass das nicht rechtens war, was ich da so machte. Die ahnungslose Nachbarin, sie war Nichtjüdin, hätte sicherlich nicht gewollt, dass ich ihr jeden Freitagabend zuguckte, wie sie sich schön machte.
Körperpflege Ich war besorgt, was wohl Gott zu meinem Treiben dachte. Im Rückblick jedoch war diese Zeit die Aufregendste in meinem zwanzigsten Lebensjahr. Ich musste nämlich aufpassen, dass mich niemand ins Zimmer hinein- und hinausschleichen sah. Außerdem lernte ich sehr viel über Körperpflege. Bis dahin putzte ich meine Zähne nur sehr liederlich. Die Nachbarin zeigte mir, wie es geht. Das hat mich ein bisschen zum Mann gemacht, beziehungsweise zum Mann ohne Mundgeruch.
Ich will hier keine billige Geschichte erzählen, mir geht es eher um die Aufklärung. Ich glaube nämlich an Gott. Manchmal ist Er wie ein Vater, manchmal wie ein König. So steht es auch an vielen Stellen im Machsor. Seine Strafe ist stets ausgewogen und dient nur der Besserung unserer Taten. Manchmal schickt Er auch einen Boten um uns auf den geraden Weg zurückzuführen. Dieser Bote kann ein Engel sein oder ein fünfjähriges Mädchen wie zum Beispiel die Tochter der Nachbarin. Die kam einmal plötzlich ins Badezimmer, sagte irgendetwas zu ihrer Mutter und zeigte dann jäh zu mir: »Mama, schau, ein Kaminfeger!« Vor Schreck stieß ich mit dem Hinterkopf gegen einen alten Toraschrein. Das hat mir sehr weh getan.
Natürlich bin ich seither nie wieder in dieses Zimmer gegangen. Ich habe auch nie wieder darüber nachgedacht. Bis letzten Schabbat. Ich war wieder einmal bei meinen Eltern und betete in der alten Synagoge. Als ich mitten im Gebet auf Toilette gehen musste, und bei diesem verführerischen Zimmer vorbeiging, kam mir ein Junge entgegen. Er eröttete. Du Schlingel, dachte ich mir, warte nur, irgendwann wirst auch du mit dem Kopf gegen den Totaschrein stoßen.