Corona und Kinder: zwei Begriffe, die nicht nur Politiker vor schwierige Entscheidungen stellen, sondern für Eltern täglich große Herausforderungen bedeuten. Eine Herausforderung, die aufgrund der Kita- und Schulschließungen das ganze Familiensystem belastet hat.
Und jetzt steht schon die nächste große Entscheidung an: Soll ich mein Kind gegen Corona impfen lassen oder nicht?
Bei dieser Frage denkt man oft zunächst an die möglichen medizinischen Nebenwirkungen, die man dem Kind zumutet. Man befürchtet, dass aufgrund fehlender Langzeitstudien noch nicht alle Nebenwirkungen bekannt sind beziehungsweise erfasst wurden.
entscheidung Bei dem Entscheidungsfindungsprozess besteht die Gefahr, dass andere Faktoren eine kleine oder vielleicht gar keine Rolle spielen. Daher möchte ich die psychologischen Aspekte für das Kind oder den Jugendlichen hervorheben.
Um solch eine Entscheidung treffen zu können, ist es elementar wichtig, dass die Bedürfnisse des Kindes oder Jugendlichen an erster Stelle stehen. Ein Umstand, der meiner Meinung nach während des Lockdowns zu wenig Beachtung im öffentlichen Diskurs bekommen hat. Primär wurden gesundheits- und wirtschaftstechnische Überlegungen angestellt, als man über Restriktionen und Lockerung diskutierte.
Schließungen von Kita und Schule hatten weitreichendere Folgen als das Homeoffice.
Kinder im Kindergarten und in Schulen wurden als »Virenschleudern« bezeichnet, ohne deren Bedürfnisse ausreichend zu berücksichtigen. Es ist ein Trugschluss, Online-Unterricht mit Homeoffice gleichzusetzen. Das sind keine Hypothesen, das belegen die erhobenen Daten diverser Studien.
REIFUNG Für ein Kindergartenkind ist der Alltag im Kindergarten wesentlich für seine Entwicklung. Die Lernerfahrung bezüglich der sozialen Interaktionen mit Gleichaltrigen, sich streiten und wieder versöhnen zu können, die Notwendigkeit einer geregelten Tagesstruktur, die Sicherheit zu lernen, am nächsten Tag wieder alle sehen zu können und nicht Angst haben zu müssen, dass man seine Freunde vielleicht über mehrere Monate plötzlich nicht mehr treffen kann, all das ist für die emotionale Reifung fundamental. Kindern dieser Altersgruppe nimmt eine Kindergartenschließung einen wesentlichen Teil ihres Lebensinhalts.
Laut einer Forsa-Umfrage im Auftrag der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH) verspüren zwei Drittel der Zehn- bis Zwölfjährigen zusätzlichen Druck aufgrund des fehlenden Präsenzunterrichts. Vor allem bei Familien mit mehreren Kindern fehlt häufig der Raum für konzentriertes Arbeiten.
Diese Altersgruppe leidet auch dadurch, dass sie sich in einer Umbruchphase befindet: Selbstständiges Arbeiten muss noch erlernt werden, und aufgrund des Homeschoolings fehlt schlicht die nötige Unterstützung für diesen Prozess, da die Eltern arbeiten müssen und niemand anderes die Betreuung übernehmen kann. Für Schüler, die ohnehin Schulschwierigkeiten hatten oder einen klar strukturierten Tagesablauf benötigen, verschärfte die Pandemie diese Probleme zusätzlich.
studie Gemäß der oben erwähnten Studie belasten 36 Prozent der Schülerinnen und Schüler im Absolventenalter die veränderten Lebensbedingungen in der Krise, da sie um Anschluss in der Schule bangen. Sie haben aufgrund ausfallender Klausuren und anderer Formen der Leistungsnachweise weniger Möglichkeiten, ihre Abschlussnote zu verbessern, die ihnen dann einen günstigeren Einstieg auf dem Arbeitsmarkt ermöglicht, was wiederum mehr Zukunftsängste auslöst.
Schüler, die schulische Schwierigkeiten haben, erlebten oft außerschulische Aktivitäten wie beispielsweise Freizeitsport in Vereinen nicht nur als Ausgleich, sondern sogar als selbstwertstiftend. Es war für diese Schüler eine adaptive Strategie, um zu lernen, wie sie mit dem Leistungs- und Konkurrenzdruck umgehen. Während des Lockdowns brach dies plötzlich alles weg.
Die Schule hat nicht nur die Funktion der Wissensvermittlung. Wenn wir uns an unsere Schulzeit erinnern, war es eher der eine Lehrer oder die eine Lehrerin, von dem oder der wir uns verstanden gefühlt haben und der oder die uns mit seiner oder ihrer Art geprägt hat.
interaktion Auch im therapeutischen Setting ist die Therapeuten-Patienten-Beziehung ein wichtigerer Indikator für einen Therapieerfolg als die eigentliche therapeutische Intervention. Diese Erfahrungen mit dem Lehrer oder der Lehrerin, die für den eigenen Entwicklungsprozess notwendig sind, lassen sich online natürlich nicht auffangen. Auch ist im Schulalter die Interaktion mit Gleichaltrigen notwendig für die eigene Persönlichkeitsentwicklung, was sich wiederum durch Online-Unterricht nicht ersetzen lässt.
Endgültige Zahlen für das Jahr 2020 liegen noch nicht vor, aber es lässt sich schon jetzt festhalten, dass es bei Kindern und Jugendlichen einen markanten Anstieg an psychischen Störungen, wie Schlaf-, Ess- oder Angststörungen und Depressionen, gab. Zudem hat die fehlende Aktivität im Alltag einen negativen Einfluss auf die emotionale Befindlichkeit. Schüler sind, anders als Erwachsene, in der Regel noch nicht dermaßen diszipliniert, dass sie von sich aus eine Runde joggen gehen.
Aufgrund der oben erwähnten Punkte wird offensichtlich, dass Kita- und Schulschließungen weitreichendere Konsequenzen haben als das Homeoffice. Themen wie die wachsende Mediensucht der Kinder oder die verursachte psychische Belastung der Eltern, die sich wiederum auf das Kind auswirkt, wurden gar nicht thematisiert.
ABWÄGUNGEN Bei der Entscheidung, ob man sein Kind impfen lassen möchte oder nicht, ist es wichtig, die Bedürfnisse des Kindes in den Vordergrund zu stellen. Es besteht die Gefahr, dass Bedürfnisse oder Ängste der Eltern Einfluss auf diese Entscheidung haben und die Abwägungen dominieren könnten.
Die Ängste und Anliegen der Eltern dürfen nicht die des Kindes überschatten.
Ein Kind soll natürlich nicht geimpft werden, weil die Eltern den Urlaub gern im Ausland verbringen möchten. Auch die eigenen Ängste sollten nicht die Bedürfnisse des Kindes überschatten. Gemäß diversen Studien wissen wir, dass Leute tausendmal eher bereit sind, Risiken zu akzeptieren, die sie freiwillig eingehen (wie Rauchen oder Alkohol), als Risiken, die man »akzeptieren« muss (wie Bahnverkehr oder Gefahren im Zusammenhang mit Atomkraftwerken).
Natürlich kann es dann sein, dass man die Impfung als Zwang ansieht, um seine Bürgerrechte erlangen zu können, und deshalb eher dagegen ist. Zudem zeigen die Studien, dass Laien tendenziell die Risiken eher höher einstufen als Experten. Ferner kann aus den Daten geschlossen werden, dass Risiken, die den eigenen Körper betreffen, in unserer Gesellschaft anders wahrgenommen werden als andere. Es ist nur wichtig, dass man sich seine eigenen »Neigungen« zu gewissen Entscheidungen bewusst macht und somit versucht, diese nicht auf die Kinder abzuwälzen oder zu projizieren.
STIKO Die Ständige Impfkommission (Stiko) hat in einem vorläufigen Entwurf vom 8. Juni eine generelle Impfempfehlung für die Altersgruppe junger Menschen von zwölf bis 17 Jahren nicht ausgesprochen. Sie begründet dies mit der begrenzten Datenlage. Die Risiko-Nutzen-Abwägung ist auf dieser Basis schwer möglich.
Zudem verweist die Stiko darauf, dass Kinder selten schwer erkranken. Allein bei Kindern mit Vorerkrankungen oder Kontakt zu gefährdeten Personen wird eine Impfung empfohlen. Nach ärztlicher Aufklärung ist eine Impfung für Zwölf- bis 17-Jährige jedoch möglich.
Wenn man dieser Empfehlung Folge leisten möchte, ist es dennoch wichtig, dass die Kinder wieder einen Alltag erleben können, der die für ihre Entwicklung notwendigen Erfahrungen ermöglicht. Zudem berücksichtigt die Stiko höchstwahrscheinlich auch medizinische Überlegungen, die nicht Gegenstand dieses Artikels waren.
appell Dieser Beitrag sollte nicht als Impfempfehlung verstanden werden. Mein Appell zielt darauf, die Bedürfnisse der Kinder ernst zu nehmen und diese nicht zu unterschätzen, wie das meines Erachtens teilweise im Lockdown der Fall war.
Falls Eltern vor der Wahl stehen, ob sie ihr Kind ab zwölf Jahren impfen lassen sollen, wie der Ausschuss für Humanarzneimittel (Committee for Medicinal Products for Human Use, CHMP) bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur (European Medicines Agency, EMA) bezogen auf den BioNTech-Impfstoff empfohlen hat, ist es wichtig, sich zu verdeutlichen, dass nicht die Ängste, Anliegen oder Bedürfnisse der Eltern die des Kindes überschatten dürfen.
Das Kind und sein Alltag sollen im Entscheidungsprozess primär sein. Das Kind muss gesehen werden!
Der Autor ist Rabbiner und Psychologe in Osnabrück. Er hat an Jeschiwot in Jerusalem und in England studiert.