Urlaub

Das ist der Gipfel

Schweizer Bilderbuchlandschaft: Bergidylle nahe Appenzell Foto: imago images / Joana Kruse

Endlich Urlaub: In den meisten Bundesländern haben die Sommerferien längst begonnen. Und wie in jedem Jahr stellten sich zuvor Millionen Erholungshungrige die Frage: Wohin soll es diesmal gehen, in die Berge oder ans Meer? Ergebnisse einer Umfrage des Statistischen Bundesamtes zeigen, dass sich 70 Prozent eher für einen Urlaub am Meer entscheiden, nur 23 Prozent zieht es in die Berge.

Die ersten »Pauschalreisen« führten in die Alpen.

»Natürlich ins Gebirge, wohin denn sonst?«, schrieb Franz Kafka 1913. Damals gab es nicht so viele Alternativen. Die ersten »Pauschalreisen« führten in die Alpen. Heute haben wir die große Auswahl. Und dabei verrät die Entscheidung über den Urlaubsort auch gleich einiges über den Menschen: Forscher der University of Virginia haben herausgefunden, dass sich introvertierte Menschen eher in den Bergen wohlfühlen, extrovertierte lieben Strand und Meer.

Natur Wer in die Berge fährt, will sich zurückziehen können, die Stille erleben, sucht den Kontakt zur Natur, will vielleicht auch sich selbst begegnen und erlebt angesichts der gewaltigen Gipfel auch den einen oder anderen spirituellen Moment. Der Philosoph Vilém Flusser behauptet in einem Essay sogar, dass, wer nie bergauf gegangen sei, nie gelebt habe.

So waren für die europäischen Juden die Berge in der Mitte des Kontinents »von jeher Faszination, Herausforderung und Rätsel zugleich«, schreiben Hanno Loewy und Gerhard Milchram 2009 im Vorwort des Buches zu einer Ausstellung der Jüdischen Museen Hohenems und Wien, die sich der jüdischen Beziehungsgeschichte zu den Alpen widmete. »Diese Verschwendung der Natur, diese Üppigkeit von Schönheit, Schroffheit und Energie musste einen Sinn haben, den es zu ergründen galt«, heißt es da.

Faszination Dieser Faszination und Rätselhaftigkeit können sich auch Tora und Talmud nicht entziehen. Zur eben erwähnten Ausstellung schreibt der österreichische Judaist Gerhard Langer, dass allein im Tenach, also unserer Bibel, etwa 500 Einträge zu den Begriffen Berg und Gebirge zu finden sind. »Doch nicht die Häufigkeit des Vorkommens von Bergen allein lässt aufhorchen«, so Langer, »sondern vor allem ihre Bedeutung.« Berge seien da Wohnort, Fluchtpunkt oder Schauplatz dramatischer Ereignisse.

Noachs Arche befindet sich am Ende der Flut auf dem Berg Ararat, der Berg Gilboa ist bekannt als Ort der Niederlage und des Endes von König Schaul. Auf dem Har Moriah soll Awraham seinen Sohn Itzchak opfern, später steht hier das Heiligtum, der Jerusalemer Tempel.

Beim Anblick besonderer Berge sagen wir
einen Segensspruch.

Im Talmud heißt es: »Wer einen Berg im Traum sieht, stehe morgens auf und spreche: ›Wie lieblich sind auf den Bergen die Tritte der Heilboten.‹« Und in den Psalmen ist zu lesen: Als G’tt sein Volk aus Ägypten befreite, »hüpften die Berge«. Der Prophet Jechezkiel weiß, dass G’tt »zu den Bergen und zu den Hügeln« spricht.

Har Sinai Eine ganz besondere Bedeutung hat der Har Sinai, der Berg G’ttes, an dem Er zu uns Menschen gesprochen hat. Hier wird Mosche aufgefordert, »komme herauf zum Ewigen«, und erhält die Tora. Später erinnert ihn G’tt daran, alles so zu machen, »so dir gezeigt worden auf dem Berge«.

In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass sich das Volk Israel im Sinai bekanntermaßen immer wieder mal sehr unzufrieden zeigt und sich bei Mosche beschwert. Ein Midrasch erzählt, dass dies geschah, weil sie durch die Erhabenheit der Berge verwirrt waren. Sie sahen die Ewigkeit, in denen diese Gipfel schon existierten, im Gegensatz zu ihrer eigenen Vergänglichkeit. Sie erkannten die gewaltigen steinernen Erhebungen und fühlten sich noch kleiner und unbedeutender. In der Parascha Beha’alotcha, die wir vor Kurzem am Schabbat gelesen haben, wird dies beschrieben. Der Anblick der Berge kann die Menschen irritieren.

Bracha Auf den Gipfeln sind wir G’tt nahe, wir bestaunen die Wunder der Schöpfung. Es gibt sogar eine Bracha, einen Segensspruch, den wir beim Anblick eines besonderen Berges sprechen.

Übrigens bezog sich die schon erwähnte Ausstellung im Titel auf einen Ausspruch, der Rabbiner Samson Raphael Hirsch zugeschrieben wird. Er soll seinen Schülern erzählt haben, dass er eines Tages am Ende seines Lebens vom Schöpfer gefragt werden würde, ob er Sein Werk erkundet habe: »Hast du meine Alpen gesehen?«

Walter Benjamin konnte diese Frage übrigens mit einem klaren Ja beantworten. Denn er machte 1910 Urlaub im Schweizer St. Moritz und schrieb seinem Freund Herbert Belmore damals in einem Brief: »Manchmal frage ich mich, wenn ich so die Berge sehe, wozu überhaupt noch die ganze Kultur da ist«, um dann gleich darauf den Gedanken auszuführen, dass einen gerade die Kultur zum Naturgenuss befähige.

Auf den Gipfeln sind wir G’tt nahe, wir bestaunen die Wunder der Schöpfung.

Der holländische Maler Vincent van Gogh soll einmal gesagt haben: »Wenn man die Natur wahrhaft liebt, so findet man es überall schön.« Na ja, irgendwie stimmt das schon. Wir können G’ttes Schöpfung überall bewundern. Aber im Gebirge wohl doch noch etwas mehr. So halte ich es eben mit dem Satz aus dem 121. Psalm: »Ich erhebe meine Augen zu den Bergen«, und wünsche Ihnen einen erholsamen Urlaub!

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Frankfurt/Main und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).

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