Einer der denkwürdigsten und bewegendsten Momente meiner Armeelaufbahn in Israel war wohl die Vereidigung noch während der Ausbildungszeit. Es war im Mai 1998, im Hintergrund die Kulisse der Kotel, der Westmauer in der Altstadt Jerusalems. Dort werden die Fallschirmjäger traditionellerweise vereidigt, da diese Truppen maßgeblich an der Befreiung der Kotel im Sechstagekrieg 1967 beteiligt waren.
Gut erinnern kann ich mich an die Worte einer der höheren Offiziere in seiner Ansprache an uns: »Aschre ha’am schekacha lo, aschre ha’am« – »Glücklich ist das Volk, auf welches dies zutrifft; glücklich ist das Volk«, zitierte er feierlich Worte, die uns aus dem Psalm »Aschre« des täglichen Morgengebets geläufig sind.
Armee Also vervollständigte ich den Vers im Kopf: »scheHaschem Elokav« – »dessen G’tt der Ewige ist« und fragte mich dabei, ob die israelische Armee nun offiziell religiös geworden sei. Doch schnell löste sich diese Frage auf, denn der Redner vervollständigte das Zitat nicht der Quelle entsprechend, sondern sagte: »sche’elu banaw« – »dessen Söhne diese hier Stehenden sind«. Dennoch war die g’ttliche Präsenz während der Zeremonie an dieser heiligen Stätte deutlich zu spüren.
An diesem Sonntag, den 2. Juni, wird »Jom Jeruschalajim« – der Jerusalemtag – gefeiert.
An diesem Sonntag, den 2. Juni, wird »Jom Jeruschalajim« – der Jerusalemtag – gefeiert. Es ist das jüdische Datum (der 28. Ijar), an dem die israelischen Soldaten im Sechstagekrieg im Jahre 1967 die Kotel und den Tempelberg befreiten. Seither sind die heiligen Stätten wieder allen Religionen frei zugänglich. Dieses Ereignis wurde zum emotionalen Schlüsselereignis, nicht wegen seiner politischen oder sicherheitsrelevanten Geltung, sondern wegen seiner religiös-spirituellen und historischen Bedeutung.
Die Intensität der besonderen Atmosphäre der Kotel und des dahinterliegenden Tempelberges – der der Kotel ihre eigentliche Bedeutung gibt – erreicht Juden weltweit, selbst in entlegensten Winkeln der Welt. So erzählte Rabbiner Nachum Rabinovitch, Oberhaupt der Jeschiwa, an der ich studierte, wie er in den 70er-Jahren (er war damals Leiter des Jews’ College in London) mit einer kleinen Gesandtschaft Juden hinter dem Eisernen Vorhang im kommunistischen Russland besuchen ging, um sie in ihrem Judentum zu bestärken.
Außerordentlich beeindruckt hat ihn ein Jude in Moskau, der sich mit ihm in gebrochenem Hebräisch unterhielt. Der Jude war Autodidakt und hatte sich Hebräisch selbst beigebracht, denn er wolle, so vertraute er sich dem Besuch an, so bald wie möglich nach Israel auswandern. Dafür musste er große Opfer bringen, wurde vom Geheimdienst KGB verhört und beobachtet und hatte seine Karriere eingebüßt.
Schofarton Wie er zu diesem Entschluss gekommen sei? Während des Sechstagekrieges hörte dieser Jude von Moskau aus im Radio über einen Piratensender den markanten Schofarton des israelischen Oberrabbiners Shlomo Goren auf dem soeben befreiten Tempelberg. Damals noch säkularer Jude, der mit Zionismus nicht viel am Hut hatte, sei ihm der Schofarton jedoch direkt ins Herz gegangen und habe in ihm ein uraltes Sehnen ausgelöst – als Jude in Israel zu leben. So habe er seither alles darangesetzt, diese Sehnsucht umzusetzen.
Jerusalem hat für Juden immer und überall eine spirituelle Bedeutung.
Jerusalem hat für Juden immer und überall eine spirituelle Bedeutung. So gehörte es vor dem Zeitalter der Handys mit eingebauter Kompassfunktion zu den festen Ritualen, wenn eine Betergemeinschaft sich – wo auch immer in der Welt – in freiem Gelände, beispielsweise bei einem Ausflug, zusammenfand, auszudiskutieren, wo Jerusalem liegt, um damit die Gebetsrichtung bestimmen zu können.
Mischna Mangels Orientierung wurde dann oft wild in alle Richtungen spekuliert, bis man sich schließlich auf eine, hoffentlich die richtige, einigte. Glücklicherweise hält die Mischna im Traktat Brachot (4,5) fest, dass, wer nicht in Richtung Jerusalem beten kann (beispielsweise, wenn man in einem Flugzeug in die falsche Richtung fliegt), immer noch sein Herz nach Jerusalem richten kann, denn darin besteht die Hauptsache – und dies ist nach all den Diskussionen sicherlich auch geschehen
Nicht nur die Gebete werden nach Jerusalem ausgerichtet, seitdem vor knapp 3000 Jahren König Salomon daselbst auf dem Tempelberg den Ersten Tempel erbaute und diesen, g’ttlich inspiriert, zum Mittelpunkt aller Gebete weltweit bestimmte (1. Buch Könige, Kapitel 8).
Auch wird jeder Synagogenbau weltweit nach Jerusalem ausgerichtet. Seit 2000 Jahren, seit der Zerstörung des Zweiten Tempels, beten wir dreimal täglich um den Wiederaufbau Jerusalems und die Rückkehr der g’ttlichen Präsenz in die Heilige Stadt.
In der Tora wird Jerusalem kein einziges Mal namentlich erwähnt.
Erstaunlicherweise wird in der Tora die Stadt Jerusalem trotz derer zentralen religiösen Bedeutung kein einziges Mal namentlich erwähnt, im Gegensatz zu den prophetischen Schriften, in denen der Name über 640-mal vorkommt! Dafür verwendet die Tora einen anderen Ausdruck: »der Ort, den der Ewige erwählen wird«. Dieser Ausdruck kommt allein in den Wochenabschnitten Re’eh und Schoftim (5. Buch Mose 12–16) fast 20-mal vor.
Daraus könnte man ableiten, dass zu Zeiten der Tora, die vor etwa 3500 Jahren mit dem Tod Mosches ihren Abschluss fand und dem jüdischen Volk noch vor dem Einzug ins Land Israel übergeben wurde, Jerusalem noch nicht die auserwählte Stadt war, sondern erst unter den Königen David und Salomon dazu auserkoren werden würde.
Doch Maimonides schließt dies kategorisch aus. Der Ort, so schreibt er (Hilchot Habechira 2,2), an dem David und Salomon den Altar in Jerusalem erbauten, ist derselbe Ort, an dem bereits die Bindung Jizchaks auf dem Berg Moria stattfand, und derselbe Ort, an dem auch Noach, Kain und Abel und sogar Adam Altäre aufstellten und ihre Opfer vor G’tt darbrachten.
verschweigen Der jüdischen Überlieferung nach ist dieser Ort also seit Anbeginn der Menschheit bereits ein auserwählter! Dies führt uns zur Frage zurück: Weswegen verschweigt die Tora den Namen Jerusalem? Ein Grund hierfür könnte geopolitischer Natur sein: Bei der Übergabe der Tora stand das Volk noch vor dem Einzug ins Land Israel.
Würde die Tora bereits deutlich auf die überdimensionale spirituelle Bedeutung Jerusalems hinweisen, ruhte der Fokus nun im selben Maße auf demselben, wodurch andere Teile des Heiligen Landes bedroht wären, vernachlässigt zu werden.
»Der Ort, den der Ewige erwählen wird« beschreibt das Wesen Jerusalems aus himmlischer Sicht, »ihn sollt ihr aufsuchen und dahin kommen« aus irdischer Sicht.
Die Absicht war jedoch, dass das ganze Land in all seinen Teilen und Landstrichen mit Motivation und einer emotionalen Bindung besiedelt werden soll. Bis heute ist diese Überlegung von Relevanz: Auch heute ist das Landeszentrum in Israel äußerst dicht bevölkert, seien es Jerusalem und Umgebung wegen der spirituellen Anziehungskraft, oder seien es Tel Aviv und Umgebung wegen der wirtschaftlichen Stellung der Region.
Die Peripherie im Norden, wo auch ich lebe, und im Süden des Landes sind hierbei deutlich benachteiligt, weswegen die Regierung Förderprogramme ins Leben ruft, um diese ebenfalls attraktiver zu machen.
wesen Nachmanides begründet das Verschweigen Jerusalems in der Tora jedoch mit dem Wesen der Heiligen Stadt selbst. Die Tora weist uns an (5. Buch Mose 12,5): »Den Ort, den der Ewige, euer G’tt, erwählen wird aus allen Stämmen, Seinen Namen auf ihm ruhen zu lassen, sollt ihr aufsuchen und dahin kommen.«
Das Wesen dieses Ortes ist es, so Nachmanides’ Kommentar zum Vers, dass er gesucht, erforscht, gefordert und aufgesucht werden soll! Erst danach wird der Prophet (am Falle König Davids und Salomons) ihn erneut offenbaren.
Dies kann mit der ehelichen Verbindung verglichen werden: Der Talmud (Sota 2a) schildert, dass bereits 40 Tage vor der Zeugung eines Kindes im Himmel verkündet wird, wer dessen künftiger Ehepartner sein wird. Obwohl diese Tatsache im Himmel bereits längst bekannt ist, bleibt sie dem Menschen auf Erden verborgen. Erst wenn die Heiratenden sich unter der Chuppa zusammenfinden, wird der himmlische Beschluss offenbar.
Denn der Mensch soll nicht wegen des himmlischen Beschlusses, sondern aus eigener Kraft nach der passenden zweiten Hälfte suchen, forschen und fordern. Erst dann wird er zu ihr auch eine enge innere Verbindung herstellen, die zum Wesen dieses Zusammenhalts gehört. Ebenso verhält es sich mit Jerusalem: Obwohl dieser Ort seit Anbeginn und seit jeher dafür bestimmt ist, das spirituelle Zentrum des jüdischen Volkes und der Offenbarung G’ttes auf Erden zu sein, war es doch zunächst notwendig, die Lokalität zu verbergen, damit danach geforscht und es gefordert wird.
Wie in einer Ehe muss das Verhältnis zwischen Israel und Jerusalem stets erneuert werden.
»Der Ort, den der Ewige erwählen wird« beschreibt das Wesen Jerusalems aus himmlischer Sicht, »ihn sollt ihr aufsuchen und dahin kommen« aus irdischer Sicht. Genauso wie in einer Ehe die Verbindung und das Zugeständnis zueinander stets erneuert werden müssen, so auch die Verbindung zwischen Israel und Jerusalem.
Dies tun wir mit dem »Jom Jeruschalajim«, dem »Jerusalemtag«, deutlich, dass wir uns mit dieser Stadt freuen und sie stets und immer wieder erneut erforschen, herausfordern und aufsuchen.
Der Umzug verschiedener Botschaften von Tel Aviv nach Jerusalem, dem Beispiel der Vereinigten Staaten folgend, ist nicht nur ein Zeichen der Anerkennung der Autonomie Israels, seine Hauptstadt zu bestimmen, sondern vor allem die Anerkennung der Tatsache, dass unsere Geschichte in Israel nicht erst wie die Gründung Tel Avivs zu Beginn des 20. Jahrhunderts begann, sondern schon vor über 3000 Jahren, oder genauer genommen seit Anbeginn.
Der Autor ist Rabbiner in Karmiel/Israel.