Vor vier Jahren lernte ich in einem Schiur zwei interessante Teilnehmer kennen: Dudi und Boas. Beide sehen wie übliche Ultraorthodoxe aus, doch waren sie es vor vielen Jahren noch nicht.
Dudi hatte auf wunderbare Weise eine Krankheit überstanden, an der er fast gestorben wäre. Boas war beim Militärdienst durch eine Mine schwer verletzt worden und nur knapp mit dem Leben davongekommen. Noch heute zeugen ein fehlender Daumen und markante Gesichtsnarben von diesem schlimmen Ereignis.
Jedoch haben bei beiden die Umstände dazu geführt, dass sie mitsamt ihren Familien begannen, ein religiöses Leben zu führen. Auf mich machten sie mit dieser Entscheidung einen glücklichen und ausgeglichenen Eindruck.
wunder Manche Menschen krempeln ihr Leben nach einem einschneidenden Ereignis komplett um. Oft handelt es sich dabei um Unglaubliches, an Wunder Grenzendes. Und in der Tat, kann es im Leben eindrücklichere Dinge geben als Wunder, die man mit eigenen Augen erlebt hat?
Ja, das kann es! Genau dies bekundet Mosche in unserem Wochenabschnitt in seiner bewegenden Abschiedsrede kurz vor seinem Tod: »G’tt hat euch jedoch bis zum heutigen Tage nicht das Herz gegeben, um zu erkennen, Augen, um zu sehen, und Ohren, um zu hören« (5. Buch Mose 29,3).
Die Israeliten wurden Zeugen größter weltbewegender Wunder, durch die sie die direkte g’ttliche Führung erkennen konnten: Da waren der Auszug aus Ägypten, die Spaltung des Schilfmeers, die g’ttliche Offenbarung am Berg Sinai, jahrzehntelanges Überleben in der Wüste durch das himmlische Manna und ein wunderbarer wandernder Brunnen sowie siegreiche Kriege gegen gewaltige Könige. Diese Ereignisse prägen das jüdische Volk seither und erleben eine stete Vergegenwärtigung durch die täglichen Gebete.
Dennoch stellt Mosche erst jetzt, in den letzten Tagen seines Lebens und nach 40 Jahren voller Wunder, fest, dass sie genau an diesem Tag »das Herz bekommen, um zu erkennen und zu verstehen«.
Erkenntnis Welche Erkenntnis bringt dieser Tag mit sich, die nicht schon in den zurückliegenden 40 Jahren erlangt wurde? Was kann einen stärkeren Eindruck hinterlassen als all die genannten Wunder?
Rufen wir uns kurz eine Geschichte in Erinnerung, die sich im zweiten Jahr der Wüstenwanderung ereignete: »Es gab aber Männer, die unrein waren, (…) sie konnten das Pessachopfer an diesem Tag nicht darbringen. Also traten sie vor Mosche und Aharon am selben Tag und sprachen zu ihm: ›Wir sind unrein (…), warum sollen wir davon ausgeschlossen werden, das Opfer G’ttes zu seiner Zeit inmitten der Kinder Israels darzubringen?‹ Und Mosche sprach zu ihnen: ›Wartet, und ich werde hören, was G’tt euch aufträgt!‹« (4. Buch Mose 9, 6–8).
Auf die Forderung der Männer hin räumte G’tt dem Volk Israel eine weitere Chance ein: das »Pessach scheni«, das zweite Pessach. So konnten jene, die aus bestimmten, genau definierten Gründen nicht am ersten Pessach teilnehmen konnten, einen Monat später, am 14. Ijar, das Opfer darbringen und das Fest feiern.
Wie sollte es verstanden werden, dass G’tt seine Pläne änderte?
Chance Die Umstände, unter denen dieses Gebot gegeben wurde, verwundern: Wenn G’tt diese zweite Chance von vornherein einräumen wollte, warum hat Er das dann nicht schon vorher kundgetan? Und wenn es nicht von vornherein geplant war, welches Forderungsrecht stand diesen Männern zu? Und wie sollte dann verstanden werden, dass G’tt Seine Pläne änderte, wo Er doch laut dem vierten Glaubensgrundsatz des Maimonides (1135–1204) über der Zeit steht und sich von nichts überraschen lässt, schon gar nicht von vorhersehbaren Umständen wie diesen?
Genau hierin liegt die Besonderheit dieser Begebenheit: Pessach ist ein Zeichen der Zugehörigkeit zum Volk Israel. Hätte diesen Männern das Fest, dieses Zugehörigkeitsgefühl, nicht gefehlt, dann hätte es auch am Pessachfest selbst nicht gemangelt, und die Tora hätte keinen Ersatz eingerichtet.
Da diese Männer es aber nicht ertragen konnten, vom Pessachfest ausgeschlossen zu werden, traten sie, vom inneren Verlangen getrieben, vor Mosche und forderten die Zugehörigkeit zum Volk Israel ein. Genau deshalb wurden sie auch erhört. Eine derartige Bitte, vorgetragen von Menschen, die so fühlen, konnte unmöglich abgeschlagen werden.
erbteil Auch an anderen Stellen in der Tora begegnen uns Menschen, die ihre Bitte an Mosche herantrugen und nach dessen Rücksprache mit G’tt erhört wurden: »Und die Töchter Zelofchads traten heran (…), und sie standen vor Mosche (…) und sagten: ›Unser Vater starb in der Wüste (…) und hatte keine Söhne. Warum soll der Name unseres Vaters von seiner Familie ausgeschlossen sein, weil er keinen Sohn hat? Gib uns ein Erbteil unter den Brüdern unseres Vaters!‹ Da brachte Mosche ihren Rechtsspruch vor G’tt. Und G’tt sprach zu Mosche: ›Die Töchter Zelofchads haben recht. Gib ihnen Erbbesitz unter den Brüdern ihres Vaters!‹« (4. Buch Mose 27, 1–7).
Ebenso wie die Männer, die sich vom Pessachfest ausgeschlossen fühlten, wurden auch die Töchter Zelofchads von dem inneren Verlangen getragen, das sie zu dieser Forderung trieb. Ihre Bitte, am Lande Israel teilzuhaben, ihren Teil darin zu erben und nicht davon ausgeschlossen zu sein, kam aus der Tiefe ihres Herzens, und ihr musste deshalb entsprochen werden.
Doch zurück zur ursprünglichen Frage: Was hat sich an jenem eingangs geschilderten Tag ereignet, was den Israeliten mehr als alle bisherigen Wunder und Zeichen der g’ttlichen Offenbarungen Augen und Herz öffnete?
Raschi Der Midrasch, im Kommentar von Raschi (1040–1105) zu dieser Stelle (5. Buch Mose 29,3) angeführt, schildert einen zunächst trivial anmutenden Vorfall, der bei genauerer Betrachtung jedoch umso pikanter ist: »Bis zum heutigen Tag: An diesem Tage, als Mosche dem Stamm Levi die Torarolle gab (…), kam ganz Israel vor Mosche, und sie sagten ihm: ›Unser Lehrer Mosche, auch wir standen am Sinai und erhielten die Tora, und (auch) uns wurde sie gegeben! Wie aber gibst du die Herrschaft über sie in die Hände deines Stammes (Levi)? So wird er uns morgen sagen: ›Nicht euch wurde die Tora gegeben, uns wurde sie gegeben!‹ Mosche freute sich über die Sache, und ihretwegen sagte er: ›Am heutigen Tag wurdest du zum Volke‹« (5. Buch Mose 27,9).
Diese Begebenheit erinnert sehr an die beiden obigen. Auch hier traten sie vorwurfsvoll an Mosche heran, beklagten sich darüber, von der Tora – G’tt behüte – ausgeschlossen zu werden, und forderten ihren Anteil an der Tora.
Und Mosche freute sich darüber. Eine solche Forderung kann nicht unbeantwortet bleiben, sie muss erhört werden, denn dies ist der Weg, sich die Tora zu erwerben.
Torarolle So übergab Mosche nicht nur dem Stamm Levi, sondern allen Stämmen jeweils eine eigene Torarolle. Außerdem bewegte es ihn dazu, die Israeliten nun als Volk zu bezeichnen, wie in den weiteren Worten Raschis geschildert, denn es ist die Zugehörigkeit zur Tora, die das Volk ausmacht und definiert.
Damit wird das von Rav Kook (1865–1935) stets betonte Dreieck vervollständigt: »Am Jisrael beEretz Jisrael al pi Torat Jisrael« – das Volk Israel, im Land Israel, mit Anleitung der Tora Israels. Die parallelen Elemente der geschilderten Begebenheiten machen deutlich, dass für alle drei gilt: Der Schlüssel für die Identifikation und die damit verbundenen bedeutenden Entscheidungen im Leben leiten sich in erster Linie nicht von äußeren Ereignissen, sondern von einer inneren Verbundenheit und dem Verlangen des Herzens ab.
Dudi und Boas mögen wegen der außergewöhnlichen einschneidenden Erlebnisse ihr Leben umgekrempelt haben. Doch ohne das innere Feuer und den täglichen Herzenswunsch, genau dieses Leben im Einklang mit den Gesetzen der Tora zu führen, hätten sie bestimmt nicht zu ihrer Zufriedenheit und inneren Harmonie gefunden.
Der Autor ist Rabbiner in Israel.
inhalt
Der Wochenabschnitt Ki Tawo erzählt davon, dass die Israeliten aus Dankbarkeit für die Ernte und die Befreiung aus der Sklaverei ein Zehntel der Erstlingsfrüchte opfern sollen. Außerdem wird ihnen befohlen, die Gebote G’ttes auf großen Steinen auszustellen, damit alle sie sehen können. Danach schildert die Tora Fluchandrohungen gegen bestimmte Vergehen der Leviten. Dem folgt die Aussicht auf Segen, wenn die Mizwot befolgt werden. Zum Abschluss erinnert Mosche die Israeliten daran, dass sie den Bund mit dem Ewigen beachten sollen.
5. Buch Mose 26,1 – 29,8