Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit deine Tage lang werden in dem Land, das der Ewige, dein G’tt, dir gibt» (2. Buch Mose 20, 12). Dieser Ausspruch beinhaltet das letzte Gebot auf der ersten Tafel: also auf jener Steinplatte, die in der jüdischen Tradition die Gesetze zwischen Mensch und G’tt umfasst.
Wobei sich unmittelbar die Frage stellt, warum das fünfte Gebot eigentlich auf der ersten Tafel zu finden ist? Würde es nicht besser auf die zweite Tafel passen, auf der die zwischenmenschlichen Beziehungen geregelt sind? Nicht unbedingt. Schließlich geht es auf der ersten Tafel nicht nur um das Verhältnis des Menschen zu G’tt im engeren Sinne, sondern stattdessen um das Verhältnis des Menschen zu seinem Schöpfer. Und genau hier kommen die Eltern ins Spiel, die ja nichts Geringeres tun, als Leben zu zeugen, hervorzubringen, zu schaffen.
Sie nehmen also gegenüber ihren Kindern eine Position ein, die dem Verhältnis des Menschen zu G’tt ähnelt. Zugegeben: Mann und Frau schöpfen nicht aus dem Nichts, wie der Ewige dies tut. Nichtsdestoweniger kommt die Entstehung menschlichen Lebens, das aus der Vereinigung von Mann und Frau entspringt, dem ursprünglichen Schöpfungsakt zumindest nahe. Es geht hier also nicht alleine um den g’ttlichen Schöpfer, sondern eben auch um die menschlichen.
Partner Die Eltern sind in dieser Hinsicht deshalb nicht nur als Stellvertreter G’ttes auf Erden zu betrachten, sondern sie stehen dem Ewigen laut unseren Weisen sogar als Partner bei der Erschaffung neuen Lebens zur Seite. Schon deswegen verdienen sie eine besondere und herausragende Behandlung. Ihnen gebührt Ehrerbietung.
Bemerkenswert ist dabei, dass der fünfte Ausspruch nicht verlangt, Vater und Mutter zu lieben, sondern sie zu ehren. Das jüdische Gesetz fordert hier also nichts, was emotional oder psychologisch unmöglich erscheint. Ganz im Gegenteil: Es geht wie selbstverständlich davon aus, dass es – aus welchen Gründen auch immer – durchaus vorkommen kann, dass ein Kind seine Eltern eben nicht liebt.
Die Tora berücksichtigt, dass gerade in diesem einzigartigen zwischenmenschlichen Verhältnis ambivalente Gefühle – mitunter sogar Abneigung oder Hass –entstehen können. Das ist für dieses Gebot jedoch nicht maßgeblich. Entscheidend ist vielmehr die Ehrerbietung für die Eltern. Und diese artikuliert sich nicht auf emotionaler Ebene, sondern durch wahrnehmbares, also spürbares und sichtbares Verhalten der Kinder gegenüber ihren Eltern. Und zwar gegenüber beiden, Vater wie Mutter, in gleichem Maße!
Gleichberechtigung Die übereifrigen Frontkämpfer der Gleichberechtigung, die hinter jeder zweiten biblischen Formulierung einen Hinweis auf Anachronismen und auf die Ungleichbehandlung der Geschlechter zu erkennen glauben, könnten an dieser Stelle zwar einwenden, dass der Vater in dem Gebot vor der Mutter genannt wird – dass es also sehr wohl eine Bevorzugung des männlichen Elternteils gebe.
Doch das ist erstens zu kurz gedacht und zweitens bei näherem Hinsehen schlichtweg falsch. Es gibt nämlich eine weitere Passage im dritten Buch Mose, welche mit diesem Gesetz eng zusammenhängt und die Eltern in umgekehrter Reihenfolge benennt. Dort heißt es: «Ein jeder von euch soll vor seiner Mutter und seinem Vater Ehrfurcht haben» (3. Buch Mose 19,3).
Eine über 2000 Jahre alte Erklärung zu diesen beiden Passagen findet sich in einer Auslegung von Rabbi Ishmael. Dort heißt es: «Offenbar und bekannt ist es ihm, der da sprach und die Welt entstand, dass der Mensch seine Mutter mehr als seinen Vater ehrt. Denn die Mutter beschwichtigt ihn mit sanften Worten. Auch ist es ihm, der da sprach und die Welt entstand, offenbar und bekannt, dass der Mensch seinen Vater mehr als seine Mutter respektiert. Denn der Vater lehrt ihn Tora. In dem Gebot, das von Respekt handelt, nennt er deshalb die Mutter vor dem Vater. Es gilt nämlich das Prinzip, dass die Tora, wenn sie an einer Stelle etwas unvollständig ausdrückt, es an anderer Stelle vervollständigt. Oder glaubst du etwa, dass, weil der eine oder der andere in einem Text zuerst erwähnt wird, er auch in der Tat dem anderen vorzuziehen ist? Nein! Deshalb heißt es in der Heiligen Schrift ja gerade: ›Ein jeder von euch soll vor seiner Mutter und seinem Vater Ehrfurcht haben.‹ Das bedeutet, dass sie beide gleichwertig sind und dementsprechend behandelt werden müssen» (Mechilta de Rabbi Ishmael, Bachodesch Kap. 8).
Die Tora sorgt in zwei unterschiedlichen, aber inhaltlich miteinander zusammenhängenden Passagen also nicht nur dafür, dass selbst der leiseste Verdacht einer Ungleichwertigkeit oder Ungleichbehandlung zerstreut wird, sondern sie berücksichtigt obendrein die tatsächlichen Umstände, wie sie in aller Regel zu beobachten sind.
Autorität Gemeinhin empfinden Kinder gegenüber dem Vater als autoritärerer, rationalerer, strikterer Bezugsperson eher Ehrfurcht oder Respekt als gegenüber der Mutter. Ihr gegenüber fällt es meist leichter, dem Gebot des Ehrens nachzukommen, da die emotionale Bindung, das Verständnis für das Kind und die Innigkeit stärker ausgeprägt sind. Zweifellos: Es gibt auch Fälle, in denen sich dieses Verhältnis genau andersherum zeigt, doch hier geht es um den Regelfall und nicht um die Ausnahme, die ebendiesen bestätigt.
Die Tora jedenfalls nimmt diese unterschiedlichen natürlichen Reaktionen gegenüber den beiden Elternteilen auf und reagiert in einzigartiger Weise darauf: Wo es um Ehre geht, also ebenjene Haltung, die gegenüber der Mutter näherliegt, wird der Vater zuerst genannt. Wo es hingegen um Respekt und Ehrfurcht geht, also die Haltung, die gegenüber dem Vater leichter fällt, da wird die Mutter zuerst genannt.
Obwohl die Kinder also entgegen ihrer natürlichen Intuition gerade an der Haltung gegenüber dem jeweils anderen Elternteil besonders herausgefordert werden, also besonders hart an sich arbeiten müssen, gebühren Ehre und Respekt beiden Eltern: Vater und Mutter ebenso wie Mutter und Vater.
Und wie nicht anders zu erwarten, regelt das Judentum in seinem Schrifttum, den Auslegungskompendien und Gesetzesbüchern, en détail, wie, wann und in welcher Form die Forderung, die Eltern zu ehren, in der Praxis zu erfüllen oder ausnahmsweise auch nicht zu erfüllen ist. Denn natürlich gibt es Ausnahmen und Extrembeispiele, in denen das Gesetz außer Kraft gesetzt wird.
Belohnung Für uns stellt sich allerdings eine andere Frage, nämlich die, warum dieses Gebot so wichtig ist. Schließlich ist es nicht nur eines der Zehn Gebote, sondern es ist obendrein das einzige in dieser Aufzählung, das eine Art «Belohnung» in Aussicht stellt. So heißt es: «... damit deine Tage lang werden in dem Land, das der Ewige, dein G’tt, dir gibt».
Wobei: Handelt es sich hier wirklich um eine Belohnung? Der amerikanische Autor Dennis Prager jedenfalls beantwortet in seinem Buch The Ten Commandments beide Fragen auf einmal. Er schreibt, dass diese Passage zwar als Belohnung angesehen werden könne, dass sie unabhängig davon aber in jedem Fall eine Begründung enthalte.
Wenn nämlich eine Gesellschaft aufgebaut werde, in der Kinder ihre Eltern ehren, dann würde diese Gesellschaft lange überleben. Umgekehrt gelte: Eine Gesellschaft, in der Kinder ihre Eltern nicht ehren würden, wäre zur Selbstzerstörung verdammt. Durch die Einhaltung speziell dieses Gebotes würde ein jeder begreifen, dass eine moralische Autorität, gegenüber der man verantwortlich ist, unabhängig von einem selbst existiert. Und ohne diese Grundvoraussetzung ließe sich schlicht keine moralische Gesellschaft aufbauen oder auf Dauer erhalten.
Zugegeben: Das Judentum geht natürlich davon aus, dass G’tt die höchste Autorität ist und nicht die eigenen Eltern. Doch das ist auch gar nicht gemeint. Es geht vielmehr darum, dass es für uns Menschen ziemlich schwierig ist, G’tt zu ehren, wenn wir es in unseren Sphären nicht lernen können.
Freud Wir müssen also erst einmal Trockenübungen absolvieren. Deshalb wies auch der durchaus religionskritische und atheistische Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, schon darauf hin, dass die Einstellung eines Menschen zu G’tt maßgeblich durch die Einstellung zu seinem eigenen Vater beeinflusst wird. Der Ewige als Vater aller Väter sozusagen.
Eine gute und gesunde Gesellschaft jedenfalls basiert auf funktionierenden Familienstrukturen, in denen Ehre, Respekt und Loyalität gegenüber den Eltern als Grundpfeiler eingeschlagen werden.
Sie baut auf der familiären Keimzelle auf, in der soziales Miteinander, Werteerziehung und gegenseitige Achtung gelernt und gelebt werden sollen. Sie verlangt nach Vorbildern auf allen Ebenen. Und sie profitiert von dem Wissens-, Weisheits- und Erfahrungsschatz, der von Generation zu Generation von den Eltern an die Kinder weitervermittelt werden kann.
Das fünfte Gebot gilt mitunter als das anspruchsvollste und schwierigste Gesetz der ganzen Tora. Aus eigener Erfahrung kann ich Ihnen jedenfalls sagen, dass es nicht immer leicht ist, diesem Gebot gerecht zu werden. Und meine Kinder würden das ohne Zögern bestätigen. Garantiert!
Aber gleichzeitig lohnt es alle Mühen, alle Belastungen, alle Anstrengungen. Denn das Ergebnis wird eine bessere Gesellschaft sein. Und davon profitieren wir schließlich alle.
Der Autor ist Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.