Teschuwa

»Das eigene Tun unter der Lupe«

Cheschbon Nefesch: Man sollte sich jeden Abend die Zeit nehmen, alle Handlungen des Tages, alle Aussprüche und Gedanken durchzugehen und kritisch zu beleuchten. Foto: Getty

Über den großen Halachisten und Ethiker Chafetz Chaim, Rabbiner Israel Meir Kagan (1838–1933), wird erzählt, er habe einen kleinen Laden geführt, dessen Öffnungszeiten er bewusst so weit einschränkte, dass ihm der größte Teil des Tages für das Studium der Tora blieb. Doch als sich in ihm die Befürchtung regte, dass selbst die kurzen Öffnungszeiten seines Ladens andere Geschäfte ihrer Kunden und somit ihrer zum Leben notwendigen Einnahmen berauben könnten, schloss er seinen nicht sehr rentablen Betrieb endgültig.

Dennoch zog er aus seinen nicht sonderlich erfolgreichen Jahren als Geschäftsführer einige wichtige Lektionen. »Es verwunderte ihn«, erzählte sein Sohn später, »dass Ladeninhaber eine so strenge und akribische Buchhaltung über sämtliche Einnahmen und Ausgaben führten, aber denselben Eifer nicht bei der Begutachtung ihres ethischen Verhaltens zeigten.«

Cheschbon NEFESCH Der Chafetz Chaim war dafür bekannt, dass er sich jeden Tag dem sogenannten Cheschbon Nefesch widmete, der Berechnung seiner Taten. »Was ist die midraschische Bedeutung des Verses (4. Buch Mose 21,27): ›Deswegen sprechen die Herrscher: Kommt nach Cheschbon (Rechnung)‹? ›Die Herrscher‹, das sind diejenigen, die ihre Triebe beherrschen wollen« (Schmirat Halaschon II, 8,2).

Unter Cheschbon Nefesch, einem Prinzip der jüdischen Mussar-Bewegung des 19. Jahrhunderts mit Wurzeln in verschiedenen ethischen Schriften des Mittelalters, versteht man die persönliche Zeit, die ein Mensch sich jeden Tag, etwa abends, nehmen sollte, um alle von ihm am Tag durchgeführten Handlungen, Aussprüche und Gedanken durchzugehen und kritisch zu untersuchen.

Der Chafetz Chaim führte zu diesem Zweck ein Heft, eine Art ethisches Tagebuch, in dem er auflistete, was er vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang Schlechtes oder zumindest moralischer Exzellenz Ermangelndes getan, gesagt oder gedacht hatte, mit dem Ziel, sich seiner charakterlichen Makel bewusster zu werden und die aus diesen geborenen Fehltritte zukünftig vermeiden zu können.

Die jüdische Tradition weiß sehr wohl, dass nicht jeder Mensch so sorgfältig und unablässig das eigene Leben untersuchen und verbessern kann wie der Chafetz Chaim. Dennoch möchte sie auch nicht, dass wir gänzlich auf Praktiken zur Bespiegelung der eigenen Taten verzichten. Dies gilt sowohl in Bezug auf Sünden zwischen einem Menschen und seinem Mitmenschen als auch auf solche zwischen dem Menschen und Gott.

Auch außerhalb der Feiertage bittet man im Amida-Gebet um die Vergebung der Sünden.

Darum haben die talmudischen Weisen eingeführt, dass man dreimal am Tag in der Amida, dem Hauptgebet, darum bitten soll, dass der Ewige einem gewähre, vollständige Teschuwa, Reue und ganzheitliche Umkehr zu Gott, zu erwirken und uns unsere Sünden um dieser Buße willen vergeben werden.

Neben vielen anderen halachischen Mechanismen, um eine reumütige Selbstbeobachtung zu ermöglichen, sei vor allem der durch die kabbalistische Tradition geförderte intensive Brauch des Jom Kippur Katan, des »kleinen Versöhnungstags«, genannt.

Am letzten Tag eines jeden jüdischen Mondmonats ist es üblich, mithilfe verschiedener Bußgebete die Taten und Ereignisse des sich beschließenden Monats genauer unter die Lupe eines Cheschbon Nefesch zu nehmen und um göttlichen Beistand und Vergebung zu bitten.

Der Höhepunkt dieser inneren Untersuchungen ist aber natürlich nicht dieser »kleine«, sondern der große, der eigentliche und direkt von der Tora eingeführte Jom Kippur am zehnten Tag des Monats Tischrei.

Als Abschluss der mit Rosch Haschana beginnenden zehn Tage der Umkehr ist an Jom Kippur mit der Intensität der Nähe des göttlichen Richterstuhls auch die Intensität der Bußfertigkeit am größten. Daneben findet das Konzept der Teschuwa an diesem besonderen Tag auch besonderen liturgischen Ausdruck.

Nach der Halacha sind die Sünden der Gemeinschaft im Rahmen des Versöhnungstags sechs Mal leise von jedem für sich und dann weitere vier Male von der Gesamtheit der Beter als Widuj-Gebet auszusprechen und zu bereuen.

Widuj, wörtlich (Sünden-)Bekenntnis als Folge einer inwendigen Umkehr, ist eine Mizwa der Tora selbst, wie Maimonides, der Rambam (1135–1204), zu Beginn seiner Hilchot Teschuwa darlegt.

Dass die eigenen Vergehen als Teil eines Reueprozesses vor Gott ausgesprochen und dargelegt werden müssen, ist in Mischle, dem biblischen Buch der Sprichwörter, angedeutet: »Wer bekennt und ablässt, der wird Erbarmen finden« (28,13).

Betrachtung Über das gemeinsame Betrachten der Sünden am Versöhnungstag gibt es eine grundlegende Meinungsverschiedenheit im Talmud: Rabbi Jehuda ben Bawa meint, man müsse beim Widuj alle begangenen Sünden individuell aufzählen. Rabbi Akiva hingegen sagt, dies sei nicht nötig. Vielmehr genüge eine allgemeine Zusammenfassung (Joma 86b).

Der Rambam folgt in seinem halachischen Codex Mischne Tora der Meinung von Rabbi Jehuda ben Bawa, der spätere und autoritativere Schulchan Aruch allerdings Rabbi Akiva. Der Brauch ist daher, dieser letzteren Meinung zu folgen und an Jom Kippur das »Aschamnu«- und »Al Chet«-Gebet zu rezitieren, in dem die Gemeinschaft gemeinsame Vergehen aufzählt und der Einzelne seine spezifischen Sünden hinzudenkt.

Nichtsdestoweniger ist es lobenswert, die eigenen Sünden auch konkret zu benennen und, wenn sie zwischen einem selbst und den Mitmenschen geschehen sind, sogar öffentlich kundzutun, um eine tiefergehende Reue zu erzeugen (Joma ebd.).

SÜHNETAG Die Gemara diskutiert auch, ob man diejenigen Sünden, die man am diesjährigen Sühnetag vor dem Ewigen bedauert und gebeichtet hat, auch am Jom Kippur des nächsten Jahres noch erwähnen dürfe.

Bei Vergehen gegen andere Menschen muss vor der Verzeihung eine Aussöhnung erfolgen.

Laut Rabbi Elasar ben Jaakow ist dies möglich, nach anderen Gelehrten dagegen unzulässig. Diese Frage führt zu einer tiefen, das Wesen des Jom Kippur betreffenden Frage: Tilgt der Versöhnungstag wirklich vollständig die eigenen Sünden, sodass man sich nach ernster Reue und dem Erscheinen dreier Sterne am Abend von Jom Kippur kein schlechtes Gewissen mehr wegen früherer Fehltaten machen muss?

Tatsächlich finden wir in der Tradition die Meinung, dass ernsthafte Teschuwa, Umkehr zu Gott, die Kraft hat, alle Sünden zu vergeben. »Groß ist die Reue, denn sie reicht bis zum Thron der göttlichen Herrlichkeit heran« (Joma 86a).

Dies bedeutet jedoch nicht, dass Teschuwa auch immer zu einer direkten Sühne aller Sünden an Jom Kippur führt. Vielmehr hängt nach manchen rabbinischen Meinungen alles von der Schwere des Vergehens ab.

So unterscheidet Rabbi Jischmael zwischen vier Arten von Sünden und einer an sie angepassten Länge des Sühnevorgangs:

1.) Wer ein positives Gebot (ein aktives »Tu!«-Gebot im Unterschied zu einem passiven »Tu nicht!«-Gebot) übertritt, dessen Strafmaß nicht »Karet« (eine Form strenger himmlischer Strafe) beinhaltet (zum Beispiel Tefillinlegen oder Armenunterstützung), erlangt Sühne auch durch Teschuwa allein.

2.) Wer ein negatives Gebot übertritt, dessen Strafmaß nicht »Karet« oder irdische Todesstrafe beinhaltet (zum Beispiel der Verzehr verbotener Speisen), bedarf zusätzlich auch der vergebenden Kraft des Versöhnungstags.

3.) Wer ein Gebot übertritt, dessen Strafmaß »Karet« oder irdische Todesstrafe beinhaltet (zum Beispiel Götzendienst), bedarf zusätzlich auch der »Jissurin« (von Gott verordnetes Leid in dieser Welt).

4.) Wer bei einer der zuvor genannten Sünden auch noch den göttlichen Namen entweiht, erreicht vollständige Sühne erst durch den Tod am Ende seines Lebens.

Diese vier Kategorien gelten allerdings nur für Sünden des Menschen gegenüber Gott. Bei zwischenmenschlichen Vergehen muss zuerst eine Aussöhnung und Wiedergutmachung erfolgen (Joma 85b).

Ungeachtet dieser sehr systematischen Ausführung von Rabbi Jischmael beten wir an Jom Kippur im Vertrauen auf die Gnade des Ewigen aber natürlich dennoch, dass unsere Sünden sofort und vollständig vergeben würden »durch Dein großes Erbarmen, nicht aber durch Leid (Jissurin) und schlimme Krankheiten«, wie es im Machsor heißt (vgl. Berachot 17a), denn »wahre Reue und sich anschließende gute Taten sind wie ein Schild gegen göttliche Strafen« (Awot 4,11).

Der Autor ist Rabbiner und lebt in Berlin.

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