Die tiefe Kluft zwischen religiösen und säkularen Juden in Israel – in einem geringeren Ausmaß auch in Amerika – ist nicht nur eine Bedrohung für die Zukunft Israels, sondern gefährdet das ganze jüdische Volk. Die Gründe dafür sind vielfältig – aber als religiöser Mensch muss ich damit beginnen, nach innen zu schauen und Kritik an mir und der Gemeinschaft, der ich angehöre, zu üben.
Wir Menschen stehen unter zwei im Wettstreit liegenden Einflüssen: der Macht unseres Egos auf der einen und dem angeborenen Streben nach Spiritualität auf der anderen Seite. Viele von uns verbringen ihr Leben damit, zwischen beiden hin und her zu schwanken. Kern der Sache ist die Dualität unserer menschlichen Natur. Wir sind zugleich spirituell und materiell. Wir bestehen aus Körper und Seele, beide verfolgen Interessen, die im Widerstreit miteinander liegen.
Oft haben die Unterschiede zwischen einem religiösen Menschen und einem weltlichen Menschen damit zu tun, welche dieser beiden Hälften vornehmlich die Oberhand hat. Bei einem religiösen und spirituellen Menschen dominiert der Wunsch nach Spiritualität, während bei einem säkularen Menschen die physische Seite vorherrscht.
Spiritualität Menschen, die von Natur aus und auf authentische Weise spirituell sind, werden selbst von jenen geachtet, die weder religiös noch spirituell sind. Sie sind eine Quelle der Inspiration auch für die meisten säkularen Menschen. Das Problem ist, dass sich religiöse und spirituelle Gemeinschaften oft in Kulturen mit hierarchischen Tendenzen, politischen Kämpfen und allem, was sonst zu einer Gesellschaft gehört, die sich aus verschiedenen Menschen mit individuellen Egos zusammensetzt, entwickeln. Wenn dies geschieht, wird der Wunsch nach spiritueller Erfüllung institutionalisiert, und Status wird genauso wichtig wie spirituelle Erfüllung.
An diesem Punkt vermischt sich die Sehnsucht nach Spiritualität gern mit egoistischem Wünschen. Die politische Auseinandersetzung innerhalb einer religiösen Gemeinschaft wird dann richtig übel, wenn jede Seite den Anspruch erhebt, im Auftrag des Herrn zu handeln.
Die großen chassidischen Meister versuchten, dieses Problem so klein wie möglich zu halten. So gibt es eine chassidische Auslegung des berühmten jüdischen ethischen Lehrsatzes: »Fehlt es an einem Ort an Männern, dann bemühe dich, ein Mann zu sein« (Sprüche der Väter 2,5). Im Allgemeinen wird das so verstanden, dass man an einem Ort, wo es keine richtigen Führer gibt, versuchen soll, ein Führer und positives Vorbild zu werden. Die chassidische Interpretation besagt, dass spirituelle Sehnsucht und geistiger Dienst so echt und authentisch sein müssen, als wären sie ein Ort, an dem es keine anderen Menschen gibt. Mit anderen Worten: Wahrhaftiger spiritueller Dienst darf nicht durch die Normen und Erwartungen der Gemeinschaft beeinflusst werden.
Andererseits heißt es: »Sondere dich nicht ab von der Gemeinde« (Sprüche der Väter 2,4). Im Judentum herrschte schon immer eine Spannung zwischen diesen zwei Bedürfnissen: Zusammenhalt der Gemeinde versus Authentizität. Doch wenn man genauer hinsieht, begreift man, dass die beiden Bedürfnisse tatsächlich Hand in Hand gehen. Wenn eine Gemeinschaft aus Menschen besteht, die auf wahrhaftige Weise nach spiritueller Erfüllung suchen, wird sie Zusammenhalt haben und keine überflüssigen internen politischen Machtkämpfe erleben.
Götzendienst Tatsächlich steht etwas ganz Ähnliches in der Tora: »Ihr habt mit eigenen Augen gesehen, was der Herr wegen des Baal-Peor getan hat. Jeden, der dem Baal-Peor nachfolgte, hat der Herr, dein Gott, in deiner Mitte vernichtet. Ihr aber habt euch am Herrn, eurem Gott, festgehalten, und darum seid ihr alle heute noch am Leben« (5. Buch Moses 4,3-4). In diesem Passus sind nicht weltliche Leute gemeint, die den Götzen Baal anbeteten. Diese alten Israeliten hatten die Wunder erlebt und glaubten an Gott, doch immer noch war die Neigung stark in ihnen, ihrem Ego zu folgen und Götzendienst zu tun. Vielleicht glaubten diese Leute sogar selbst, sie würden Gott durch die Anbetung des Baals dienen. Doch sie waren blind gegenüber der Tatsache, dass ihre Anbetung keine authentische war, sondern von ihrem Ego getrieben wurde, was zu ihrer unabwendbaren Vernichtung führte. Hingegen blieben alle, die auf wahrhaftige Weise am Herrn festhielten und deren Wunsch nach Spiritualität aufrichtig war, am Leben, und zwar in jedem Sinn des Wortes.
Angesichts der hierarchischen Strukturen und Machtkämpfe in der Synagoge meinte mein verstorbener Vater einmal, über der Synagogentür sollte ein Schild angebracht werden, auf dem steht: »Egos an der Tür abgeben«. Wir müssen uns fragen, ob wir zu einer Gesellschaft wie alle anderen Gesellschaften geworden sind mit dem einzigen Unterschied, dass wir in die Synagoge statt ins Theater gehen und die Tora studieren, statt die Zeitung zu lesen. Oder sind wir ein Gemisch von Individuen, die sich alle auf authentische Weise danach sehnen, am Herrn festzuhalten.
Wenn wir das wirklich wären, würden wir nicht nur viel mehr Achtung, Verehrung und Verständnis hervorrufen aufseiten jener, die außerhalb unserer Gemeinschaft stehen, sondern auch tatsächlich zu einer Quelle der Inspiration werden. Auch wenn dies wie eine Kritik an der ganzen Gemeinschaft klingt, sollte es von allen, die diese Zeilen lesen, als Aufruf verstanden werden, sich nach Spiritualität zu sehnen, am Herrn mit Aufrichtigkeit und Authentizität festzuhalten. Um so wahre, lebenspendende Energie für sich selbst zu gewinnen und zu einer Quelle der Inspiration für andere zu werden.