Vor wenigen Wochen waren die Augen der Sportwelt auf Lausanne in der Schweiz gerichtet. Der Internationale Sportgerichtshof (CAS), der dort seinen Sitz hat, musste entscheiden, ob die südafrikanische Spitzenläuferin Caster Semenya bei den Frauen starten darf. Caster Semenya wurde als Mädchen erzogen und fühlt sich als Frau.
Doch sie hat eine tiefe Stimme, ausgeprägte Muskeln und stammt aus einer Region in Südafrika, in der viele Intersexuelle, also Babys mit nicht klar definierbarem Geschlecht, auf die Welt kommen. Gegen ihren Willen wurde Semenya 2009, nach ihrem WM-Sieg über 800 Meter als 18-Jährige in Berlin, einem Geschlechtstest des internationalen Leichtathletikverbandes (IAAF) unterzogen, dessen Details an die Öffentlichkeit gelangten.
Die Quellen kennen den »Androgynos« (Zwitter) und den »Tumtum« (Geschlechtslosen).
»Sie hat keine Gebärmutter und keine Eierstöcke«, zitierte die australische Zeitung »Daily Telegraph« damals einen »nicht genannten Informanten« aus dem Kreis der an der Untersuchung beteiligten Personen. In diesem Fall hätte Semenya dank ihres für Frauen sehr hohen Testosteronwerts einen entscheidenden Vorteil gegenüber anderen Sportlerinnen.
Testosteronwert Tatsächlich bestätigte der CAS am 1. Mai die Regelung des Leichtathletik-Weltverbandes IAAF, dass Läuferinnen mit intersexuellen Anlagen, sofern sie bei den Frauen starten möchten, einen Testosterongehalt von fünf Nanomol pro Liter Blut nicht überschreiten dürfen. Eine Vorschrift zur »Androgenbehandlung« bei intersexuellen Sportlern, um deren Testosteronwerte zu senken, hatte es bereits bis vor vier Jahren gegeben. Auch Semenya musste ihre Werte senken und wurde daraufhin einige Sekunden langsamer. 2015 wurden diese Regeln vom Internationalen Sportgerichtshof aber wieder aufgehoben.
Nun geht die Auseinandersetzung in die nächste Runde: Der südafrikanische Leichtathletikverband will gegen die jüngste Entscheidung des CAS Rechtsmittel einlegen. Doch Anfang Juni hat das Schweizer Bundesgericht angeordnet, dass Caster Semenya bis auf Weiteres wieder auf Strecken zwischen 400 und 1500 Metern laufen darf. Bis zum 25. Juni soll sich der Leichtathletikverband nun dazu äußern.
Unsere Frage ist: Wie geht das Judentum mit intersexuellen Menschen um? Bekanntlich beschäftigt sich das jüdische Religionsgesetz, die Halacha, mit allen Bereichen des Lebens und hat Antworten auf alle Fragen. Wie hätten also Dajanim (die Richter eines jüdischen Gerichthofes) diesen Fall entschieden? Dazu muss zuerst geklärt werden, zwischen wie vielen Geschlechtern im Judentum unterschieden wird und welche Folgen Gender-Diversität in der Halacha hat.
Auch Männer ohne Hoden beziehungsweise Penis bleiben immer noch Männer und sind verpflichtet, alle Gebote zu halten, die für Männer relevant sind.
GenderStudien Vor allem dank der jüdischen Gender-Studien an amerikanischen Universitäten hat sich heute die Meinung durchgesetzt, dass es im klassischen rabbinischen Judentum angeblich sechs Geschlechter gibt. Das jedoch ist ein Irrtum: Es gibt im klassischen Judentum nur zwei Geschlechter, Mann und Frau, wie es in der Tora (1. Buch Mose 1,27) klar definiert wurde: »Da erschuf G’tt den Menschen in seinem Ebenbilde, in dem Ebenbilde G’ttes erschuf er ihn, männlich und weiblich erschuf er sie.«
Was sind dann die vermeintlichen anderen vier Geschlechter, die die Forscher im Judentum entdeckt haben? In den Quellen werden »Androgynos« (Zwitter), »Tumtum« (Geschlechtsloser), »Saris« (Eunuch) und »Ajlonit« (unfruchtbare Frau) genannt. Doch während »Androgynos« und »Tumtum« noch als separate Geschlechter infrage kommen können, ist das Absondern von verstümmelten Männern und unfruchtbaren Frauen in eine eigenständige Kategorie mehr als problematisch.
Hoden Auch Männer ohne Hoden beziehungsweise Penis bleiben immer noch Männer und sind verpflichtet, alle Gebote zu halten, die für Männer relevant sind: etwa Beschneidung, Tefillin legen oder dreimal am Tag beten. Und auch unfruchtbare Frauen bleiben in der Halacha immer noch Frauen mit allen Geboten und Verboten, die für Frauen relevant sind.
Am besten sieht man am Beispiel eines Zeugnisses vor Gericht (Beit Din). Genau wie alle anderen Männer dürfen auch Eunuchen im Beit Din als Zeugen aussagen. Und genau wie alle anderen Frauen nicht im Beit Din bezeugen dürfen, darf dort auch eine Ajlonit nicht aussagen. Daraus ist klar zu erkennen, dass sowohl »Saris« als auch die »Ajlonit«, die überall im Talmud und in den halachischen Werken erwähnt werden, keine eigenständigen Geschlechter sind, sondern nur Bezeichnungen für Männer und Frauen mit Entwicklungsproblemen.
Mit den zwei anderen vermeintlichen Geschlechtern – Zwitter (Androgynos) und Geschlechtslose (Tumtum) – ist es komplizierter. In der Tosefta zum Traktat Bikurim werden sie ausdrücklich erwähnt und die Unterschiede von solchen Menschen zu anderen Männern und Frauen diskutiert. Bezüglich des Androgynos lesen wir: »Ein Zwitter gleicht in manchen Dingen Männern und in manchen Dingen Frauen. Und in manchen Dingen sowohl Männern als auch Frauen und in manchen Dingen weder Männern noch Frauen.«
Menstruation Danach werden mehrere Beispiele aufgezählt, inwiefern diese Unterschiede in bestimmten halachischen Situationen relevant sind. So gleicht ein Androgynos den Männern in dem, dass er wie Männer heiratet, wie Männer nicht die Ecken seines Bartes rasieren darf (3. Buch Mose 19,27) und auch wie andere Männer zu allen Geboten der Tora verpflichtet ist. Den Frauen gleicht der Androgynos darin, dass er wie die Frauen durch menstruales Blut rituell unrein werden und nicht wie Frauen im Beit Din als Zeuge dienen kann.
Wenn G’tt einen Menschen »anders« erschaffen hat, muss er sich nicht anpassen.
Weiter wird in der Mischna aufgeführt, in welchen halachischen Fällen ein Zwitter wie ein Mann oder eine Frau und in welchen halachischen Fällen er weder als Mann noch als Frau behandelt wird. Ein interessantes Beispiel ist hier, dass ein Zwitter nicht in die Sklaverei verkauft werden kann. Da bezüglich männlicher und weiblicher Sklaven verschiedene und teilweise einander ausschließende Gesetze gelten, wäre somit bei der Versklavung entweder sein männlicher Teil oder sein weiblicher Teil benachteiligt.
Zwitter Am spannendsten aber ist das Ende dieses Kapitels: »Rabbi Jose sagt: Ein Zwitter ist ein Geschöpf für sich allein, aber die Rabbonim konnten über ihn nicht zur Entscheidung kommen, ob er ein Mann oder eine Frau sei. Aber bei einem Geschlechtslosen (Tumtum) ist es nicht so, sondern entweder ist es zweifelhaft, ob er ein Mann ist, oder es ist zweifelhaft, ob er eine Frau ist.«
Diese brisante Aussage von Rabbi Jose scheint die These über ein »separates Geschlecht« bezüglich Androgynos und Tumtum zu bestätigen. Jedoch ist es sicherlich nicht das, was Rabbi Jose tatsächlich meint. Auch Rabbi Jose ist sich ganz sicher, dass es zwei Geschlechter gibt: Männer und Frauen. Jedoch gibt es in Bezug auf halachische Probleme zwei große Ausnahmen: »Androgynos« und »Tumtum«. Diese Menschen können Männer sein, diese Menschen können Frauen sein, jedoch machen ihre angeborenen Besonderheiten uns die Bestimmung ihres Geschlechts unmöglich.
Tora Da aber alle Gebote in der Tora entweder für Männer oder für Frauen oder für beide geschrieben sind, mussten die Rabbinen diese Personen in bestimmte Gruppen einteilen, um halachische Probleme bei der Ausführung von Geboten und Verboten zu vermeiden. Aus dieser Sicht hätten unsere Weisen die modernen Formulare mit den Bezeichnungen m/w/d höchstwahrscheinlich begrüßt. Denn für sie wäre das eine gute und hilfreiche Maßnahme, um halachische Eventualitäten zu vermeiden.
Beit DIN Jetzt können wir auch nachvollziehen, wie ein Beit Din im Fall einer intersexuellen Sportlerin entschieden hätte. Wäre die Sportlerin tatsächlich ein »Zwitter«, wie es der »Daily Telegraph« vermutet, dann wäre ihr Wettkampf mit den Frauen nicht fair. Sie wäre in diesem speziellen Kontext nicht wie andere Frauen – und hätte große Vorteile gegenüber den Konkurrentinnen. Jedoch haben unsere Weisen immer versucht, passende Lösungen vorzuschlagen, um schwierige Situationen zu lösen.
Gesundheit Der Wettkampf mit Männern käme für diese Läuferin nicht infrage, denn sie ist auch kein Mann und wäre gegenüber männlichen Leistungssportlern im Nachteil. Sich einer Hormontherapie zu unterziehen, um ihre Testosteronwerte zu senken, wie es der Leichtathletikverband IAAF fordert, wäre für unsere Weisen ebenfalls keine Lösung. Denn die Gesundheit von Menschen ist wichtiger als Rekorde.
Hormontherapie für intersexuelle Sportler ist keine Lösung. Gesundheit ist wichtiger als Rekorde.
Niemandem ist zu wünschen, dass Ergebnisse von Geschlechtstests an die Öffentlichkeit gelangen wie bei Caster Semenya, die sich bereits als 18-Jährige gegen diese Art von Behandlung wehrte: »Ich wurde Opfer einer ungeprüften Untersuchung der intimsten Details meines Ichs.«
Würde Der Vorschlag der Rabbinen wäre es wohl, einen zusätzlichen Wettbewerb zu schaffen, bei dem die von den aktuellen Regelungen betroffenen Sportlerinnen und Sportler gegeneinander antreten können. Denn wenn der Ewige einen Menschen »anders« erschaffen hat, muss er sich weder an andere anpassen noch wegen seiner Einzigartigkeit mit ihnen streiten. Sondern er muss das Recht bekommen, sein Leben in Würde und Ehre leben zu können.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinden zu Halle und Dessau und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).