Als Rabbi Ari Berman kurz nach dem 7. Oktober 2023 aus Israel in die USA zurückflog, kehrte er nicht einfach in seinen Job als Direktor der Yeshiva University zurück. Er hatte die Sirenen und Raketen über Jerusalem gehört, seinen Sohn verabschiedet, der als Reservist in die israelische Armee eingezogen wurde – »Ich kam nach Amerika zurück mit einer Mission«, sagt Rabbi Berman. Innerhalb weniger Tage rief er etliche andere Direktoren von US-amerikanischen Universitäten an, um sie zu überzeugen, ein simples Statement zu unterschreiben. Eine Erklärung, in der man sich auf bestimmte Gemeinsamkeiten einigte: »dass wir an der Seite Israels stehen, an der Seite des palästinensischen Volkes, das unter der Grausamkeit der Hamas in Gaza leidet, und an der Seite von allen Menschen mit moralischem Gewissen«.
Die ungewöhnliche Formulierung dieses Dreiklangs geht auf ein Prinzip zurück, das Rabbi Berman einst in den Schriften mittelalterlicher Rabbiner aus Südfrankreich fand. Über diese jahrhundertealte Idee schrieb er seine Doktorarbeit an der Hebrew University – und fand nach dem 7. Oktober in ihr einen Ausweg aus dem Frontendenken, dass sich an den Universitäten rasant verhärtete.
Der Direktor der Yeshiva University war das erste Mal in Deutschland
Am Mittwoch vergangener Woche stellte Rabbi Berman schließlich jenes alte Prinzip an der Humboldt-Universität in Berlin vor. Er sprach im Rahmen der Hildesheimer Vortragsreihe, die vom Rabbinerseminar zu Berlin und den Berliner Studien zum Jüdischen Recht veranstaltet wird. Es war für den weit gereisten Mann das erste Mal in Deutschland. Dem Land, von dem die Ermordung seiner Großeltern ausging. »Hier zu sein und von der jüdischen Gemeinschaft von dem Antisemitismus zu erfahren, den sie hier erlebt … es löst schon ganz bestimmte Assoziationen in mir aus«, sagt Rabbi Berman in einem Vorgespräch der Jüdischen Allgemeinen. Er ist sichtlich bewegt von dem, was er in den wenigen Tagen in Frankfurt und Berlin gesehen hat: eine jüdische Schule, junge Rabbinatsstudenten, warmherzige Gemeinden – aber er weiß auch um den Ort, an dem er sprechen will: Der große Saal der Berliner Humboldt-Universität liegt nur einen Steinwurf entfernt von dem Institutsgebäude, das im Mai besetzt und mit roten Dreiecken und Hamas-Parolen überzogen wurde.
Er sei aber nicht hier, um über Antisemitismus zu sprechen, erklärt Berman gleich zu Anfang seines Vortrags. »Die Geschichte, die ich Ihnen erzählen will, ist keine traurige.« Doch sie beginnt zunächst düster, im 13. Jahrhundert in Südfrankreich. Nach einer Welle des blutigen Antisemitismus konvertierten viele Juden, auch unter Zwang, zum Christentum. So gelangten einzelne Zitate aus der jüdischen Lehre in die christliche Welt, wo sie verzerrt und umgedeutet wurden, was in der Verbrennung des Talmuds kulminierte. Inmitten dieser mittelalterlichen Diffamierungskampagne wendet sich ein Erzbischof an Rabbi Meir Ben Simeon Ha-Me’ili, einen Talmudgelehrten aus der Provence.
Das Gespräch, das der mittelalterliche Rabbiner später notiert hat, verläuft ungefähr so: Der Erzbischof konfrontiert den Rabbiner mit dem, was er über den Inhalt des Talmuds gehört hat: Stimmt es etwa, dass Juden Nichtjuden bestehlen dürfen? Dass sie ein Besitzstück zwar zu ihrem jüdischen Nachbarn zurückbringen müssen, nicht aber zu einem Nichtjuden? »Das waren sehr ernste Anschuldigungen gegen Juden, die häufig als Geldverleiher arbeiteten, weil sie aus anderen Berufen gedrängt wurden«, erklärt Berman.
Was antwortet also der mittelalterliche Rabbiner? »Jemand hat Ihnen etwas falsch übersetzt.« Die Erlaubnis, ein Besitztum zu behalten, beziehe sich nur auf die sieben Nationen Kanaans der frühen Antike. Sie waren Götzendiener und hatten schwere Sünden begangen. Was aber einen Nichtjuden betrifft, der kein solcher Verbrecher ist, werde den Juden tatsächlich geboten, ihn in allem zu unterstützen. »Wie es im Talmud heißt, sollen wir einem Ger Toschaw die Gegenstände zurückbringen.«
Diese dritte Kategorie des »Ger Toschaw«, der weder Jude noch Götzendiener ist, verfolgt Rabbi Berman nun durch die Geschichte. Schon der Urvater Awraham bezeichnete sich selbst als solchen, eben einen Fremden, der gleichzeitig beheimatet ist. »Als die Juden nach Israel ziehen, erklärt ihnen die Tora, dass das Land von dem Ger Toschaw besiedelt sein wird. Jemandem, der anders und doch ähnlich ist wie du, und du musst ihn unterstützen und für ihn sorgen«, betont Berman.
Auch Maimonides schreibt über den Ger Toschaw
Später diskutieren die Weisen des Talmuds, ob der Ger Toschaw nun jemand ist, der schlicht keinen Götzen dient oder sich auch an alle sieben Noachidischen Gebote hält: also nicht mordet, nicht stiehlt und so weiter. Maimonides schreibt über den Ger Toschaw, man müsse ihm mit der gleichen Freundlichkeit und dem Anstand wie einem jüdischen Bruder begegnen. Rabbi Menachem Ha-Meiri, ein Schüler Ha-Meʼilis im provenzalischen Mittelalter, definiert ihn als Menschen, der »von der Religion begrenzt ist«. Man dürfe von niemanden stehlen, stellt er klar. Aber bei jenem Gottesfürchtigen sei man zusätzlich verpflichtet, einen großen Aufwand auf sich zu nehmen, um ihm einen verlorenen Gegenstand wiederzubringen.
»In unserer Tradition ist die Welt nicht in zwei Kategorien, in Juden und Nichtjuden, unterteilt«, betont Berman. Die Talmudgelehrten machten vielmehr darauf aufmerksam, selbst in einer feindlich gesinnten Umgebung auf diejenigen zuzugehen, die einen Gott fürchten und sich daher an gewisse zwischenmenschliche Prinzipien halten. Der Leiter der Yeshiva University schlägt für den heutigen Gebrauch eine etwas andere Definition vor: »Ich würde sagen, dass all diejenigen, die Werte der Menschlichkeit, des Anstands und der Moral teilen, die ein Gefühl der Verachtung für das Böse haben und das Gute anstreben, dazugehören.«
»Die Welt ist nicht in Juden und Nichtjuden unterteilt.«
»Ich glaube, dass dieses Modell genau das ist, was wir heute suchen und brauchen«, sagt Berman. »Wir sind alle Gerej Toschaw.« In der Vergangenheit wäre »der andere« zum Opfer oder zum Bösewicht gemacht worden. Doch jede Gemeinschaft verdiene Sicherheit und Geborgenheit im Rahmen ihrer eigenen Werte. »Anstatt unsere Einzigartigkeit zu verbergen, müssen wir unsere Andersartigkeit nutzen, um diejenigen zu finden, die Unterschiede respektieren, um die Partner zu finden, die sich uns mit ihrer eigenen Identität anschließen.«
Rabbi Berman ist einen ersten Schritt in den USA gegangen: Etliche Universitätspräsidenten haben mittlerweile seine Erklärung des kleinsten gemeinsamen Nenners unterschrieben, die dafür eintritt, im Nahostkonflikt alle »Menschen mit moralischem Gewissen« zu unterstützen. Er sagt auch an diesem Abend deutlich, wer für ihn dazugehört: »Die Palästinenser von den Terroristen der Hamas zu unterscheiden, ist dringlich.«
Im vergangenen Jahr, sagt Berman, dessen Sohn davon 200 Tage als israelischer Soldat dienen musste, hätten wir alle das Schlimmste im Menschen gesehen. »Aber ich bin hier, um Ihnen mitzuteilen, dass ich nach dem 7. Oktober auch das Beste der Menschheit gesehen habe. Und ich weiß, dass wir auf eine bessere Zukunft für alle hinarbeiten können.«