Brit Mila

Das beschnittene Recht

Dürfen Eltern ihre Söhne beschneiden lassen – oder verstossen sie damit gegen das Strafgesetzbuch

von Mark Swatek-Evenstein  18.02.2010 00:00 Uhr

Noch ist er glücklich. Aber vielleicht wird sich dieser Junge einmal beschweren, dass er seiner Unversertheit beraubt wurde. Foto: imago

Dürfen Eltern ihre Söhne beschneiden lassen – oder verstossen sie damit gegen das Strafgesetzbuch

von Mark Swatek-Evenstein  18.02.2010 00:00 Uhr

Einer der ältesten Bräuche des Judentums ist die Feier der Brit Mila, die zeremonielle Beschneidung der männlichen Neugeborenen wenige Tage nach der Geburt. Die Entfernung der Vorhaut des Penis des Nachkömmlings erfolgt dabei zum Zeichen der Aufnahme in den Bund zwischen Gott und Abraham und seinem Volke. Sie ist nicht eine maßgeblich von praktischen Erwägungen getragene Praxis, sondern Umsetzung des Gebotes der Tora. Darin unterscheidet sich die Beschneidung im jüdischen Brauch von der jahrzehntelang routinemäßigen Praxis in Nordamerika, aber auch Ländern wie Japan und Korea, während der Unterschied zur – ebenfalls kulturell beziehungsweise religiös begründeten – Beschneidung nach islamischem Brauch wesentlich im Zeitpunkt liegt. Die Brit Mila soll am achten Lebenstag des Jungen stattfinden, was einerseits so bedeutsam ist, dass dies auch dann geschehen soll, wenn der achte Tag auf Schabbat fällt, zum anderen so wenig streng, dass die Zeremonie auch mit Rücksicht auf die Gesundheit des Säuglings verschoben werden kann. Eine ähnlich strenge, aber flexible Vorgabe gibt es im Islam nicht.

Körperverletzung Die Beschneidung ist aber auch – jedenfalls dem Grundsatz nach – eine Körperverletzung. Diese Einstufung mag überraschend erscheinen, ist aber vor dem Hintergrund der deutschen Rechtslage vor allem konsequent. Dazu muss man wissen, dass der Bundesgerichtshof in seiner ständigen Rechtsprechung davon ausgeht, dass auch jede ärztliche Behandlungsmaßnahme eine Körperverletzung darstellt. Das gilt auch für die nach den Regeln ärztlicher Kunst durchgeführte und erfolgreiche Maßnahme. Rein rechtlich gesehen kommt es also erst einmal nicht darauf an, ob eine ärztliche Maßnahme den »Status quo« des gegebenen körperlichen Zustands verbessert oder nicht, jeder Eingriff in die körperliche Unversehrtheit ist erst einmal eine Körperverletzung – das gilt also etwa auch für den Schnitt durch die Haut, der eine notwendige Operation zunächst nur einleitet. Entsprechendes gilt im Übrigen auch für Tätowierungen und Piercings.

Schon aus diesem sehr weitgehenden Ergebnis wird deutlich, dass es sich nur um ein Zwischenergebnis handeln kann. Wer sich in Deutschland einmal operieren ließ, wird auch eine Ahnung davon haben, wie das strafrechtliche Dilemma aufgelöst wird: Über die Einwilligung, mit welcher der oder die Betroffene beispielsweise der behandelnden Ärztin den Eingriff – und damit die »Körperverletzung« – erlaubt. Damit entfällt dann auch der Vorwurf der Rechtswidrigkeit, denn der einzelne Bürger soll über sein Rechtsgut »körperliche Unversehrtheit« insofern schon selbst entscheiden dürfen, ohne dass der Staat Vorschriften macht. Mithilfe dieser Konstruktion soll, so kann man sagen, das Persönlichkeitsrecht der Betroffenen gewahrt bleiben. Der Bundesgerichtshof hat dazu in einer Entscheidung aus dem Jahre 1957 ausgeführt: »Das in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes gewährleistete Recht auf körperliche Unversehrtheit fordert Berück-sichtigung auch bei einem Menschen, der es ablehnt, seine körperliche Unversehrtheit selbst dann preiszugeben, wenn er dadurch von einem lebensgefährlichen Leiden befreit wird. Niemand darf sich zum Richter in der Frage aufwerfen, unter welchen Umständen ein anderer vernünftigerweise bereit sein sollte, seine körperliche Unversehrtheit zu opfern, um dadurch wieder gesund zu werden.«

Ausnahmen gibt es nur dort, wo die Entscheidung eine solche über Leben oder Tod ist und von den Betroffenen, etwa wegen Bewusstlosigkeit, nicht selbst kommuniziert oder gefällt werden kann. In solchen Fällen wird eine mutmaßliche Einwilligung zugrunde gelegt, da der ärztliche Eingriff »objektiv« im Interesse der Betroffenen sei.

Strafrecht Von diesen Grundsätzen muss man ausgehen, wenn man nach deutschem Recht die strafrechtliche Bewertung der Beschneidung vornehmen will. Die entscheidende Frage ist dabei, inwiefern es rechtlich möglich ist, dass für die Beschneidung eine Einwilligung die Rechtswidrigkeit entfallen lässt. In diesem Zusammenhang haben sich in den letzten Jahren auch – soweit erkennbar – erstmals deutsche Gerichte mit Fragen der Beschneidung beschäftigen müssen, wenn auch nicht im unmittelbar strafrechtlichen Zusammenhang. Konkret ging es um Fälle muslimisch begründeter Beschneidung, bei denen un-
ter den Eltern Uneinigkeit darüber bestand, ob die Beschneidung durchgeführt werden solle. Hier – und in einem vergleichbaren Fall in Großbritannien war es ähnlich – wurde festgestellt, dass der (muslimische) Vater die Beschneidung des Sohnes nicht rechtmäßigerweise gegen den Widerstand der (nichtmuslimischen) Ehefrau durchführen lassen könne. Dies wurde zum einen mit Fragen des Sorgerechts begründet, zum anderen schimmert aber auch eine gewisse Ablehnung der Praxis der Beschneidung als solcher aus den Entscheidungen. So wird auf die mangelnde soziale Akzeptanz der Beschneidung in der allgemeinen Bevölkerung abgestellt, was für die nichtmuslimischen Mütter und deren jeweiliges soziales Umfeld ja auch durchaus stimmen dürfte. In jüngerer Zeit finden sich nun aber auch Rechtswissenschaftler, die nicht mehr danach fragen, ob etwa die nichtmuslimische Ehefrau die Beschneidung ihres Sohnes gegebenenfalls hinnehmen muss, sondern danach ob Eltern überhaupt in die Beschneidung ihrer Söhne einwilligen können oder rechtlich dürfen. Diese Frage stellt sich dann für Ju-
den und Muslime in gleicher Weise.

Akademischer Streit Man kann nun die Ansicht vertreten, die Eltern dürften beziehungsweise könnten überhaupt nicht im Rahmen ihrer Erziehungsrechte in die Beschneidung ihres Sohnes einwilligen, jedenfalls nicht aus (rein) religiösen Gründen. Und nur im klar medizinisch indizierten Fall gelte etwas anderes. Dies tun einzelne Rechtswissenschaftler seit jüngster Zeit. Neben Holm Putzke, wissenschaftlicher Assistent an der Ruhr-Uni in Bochum, der soweit ersichtlich als Erster mit dieser These an die Öffentlichkeit getreten ist, gibt es mit Günter Jerouschek, Professur für Strafrecht an der Uni Jena, noch einen weiteren prominenten Vertreter dieser Ansicht. Beide haben sich in längeren Artikeln zu diesem Thema geäußert. In der weiteren strafrechtlichen Literatur finden sich zu der Frage widersprüchliche Positionen. Die Antwort ist, wie das bei Juristen häufiger ist, also umstritten.

Selbst wenn es sich hier zunächst nur um einen akademischen Streit unter Juristen handelt, so mag es doch sein, dass hier eine Weichenstellung stattfinden kann, die für die Zukunft Bedeutung hat. Denn die Begründung für das gefundene Ergebnis ist auf den ersten Blick nicht ohne Überzeugungskraft. Die Eltern dürften, so die grob zusammengefasste Argumentation, im Rahmen ihres Erziehungsrechts in die körperliche Unversehrtheit des Sohnes nur dann eingreifen, wenn dies auch im Kindeswohl stehe. Religiöse oder kulturelle Erwägungen könnten einen Eingriff wie die Beschneidung jedenfalls im jüdischen Falle schon deswegen nicht rechtfertigen, weil es für die Frage der Zugehörigkeit zum Judentum auf die Beschneidung nicht ankomme – wer sich beschneiden lassen will, der könne das schließlich auch machen lassen, wenn er achtzehn Jahre alt und selbst rechtlich in der Lage ist, die Einwilligung zu erklären. Ein Nachteil im Hinblick auf seine Zugehörigkeit zum Judentum erwachse ihm dadurch nicht. Gleiches könne man im Hinblick auf die unwiederbringlich verlorene Vorhaut nicht sagen, sodass es im Kindeswohl stehe, die körperliche Unversehrtheit zu bewahren.

Auf den zweiten Blick offenbart sich bei dieser Argumentation aber, dass sie von einem Ausgangspunkt ausgeht, an dem in der Beschneidung nur das männliche Pendant zu dem, was heutzutage als weibliche Genitalverstümmelung (FGM – Female Genital Mutilation) bekannt ist, gesehen wird. Selbst wenn eingeräumt wird, die Beschneidung sei insofern wenigstens »weniger barbarisch«, ist dies doch eine grobe Verzerrung, die allein mit juristischer Definitionstechnik erklärbar ist. Denn in jeder tatsächlichen Hinsicht überwiegen die Unterschiede doch so gravierend, dass sich ein vergleichender Ausgangspunkt, der ei-
ne Gleichbehandlung rechtfertigen soll, von selbst verbietet. Das gilt sowohl was die körperliche Beeinträchtigung und die psychischen Belastungen angeht, als auch im Hinblick auf die eigentliche Bedeutung der Beschneidung selbst. Denn diese ist im Judentum im Wesentlichen in ihrer Symbolik zu sehen. Die Beschneidung ist das unauslöschliche Zeichen der Zugehörigkeit zum Verbund des jüdischen Volkes, sie wird nicht aus medizinischen Erwägungen durchgeführt, sondern als spezifische kulturelle Tradition.

identität und geschichte Es handelt sich bei der Brit Mila um die bewusste Entscheidung der Eltern, eine der ältesten jüdischen Traditionen fortzuführen. Mit der Entscheidung für oder gegen die Beschneidung des Sohnes verbinden sich bei den Eltern grundlegende Fragen nach jüdischer Identität und jüdischer Geschichte. Man mag hier fragen, ob dabei nicht die Eltern am Nachgeborenen einen »Kampf« austragen, den sie eher mit sich selbst zu führen hätten – aber Fragen der Tradition und Identität sind immer generationenübergreifend.

Von daher ist es auch keineswegs grundsätzlich falsch, seit Langem gepflegte Traditionen zu hinterfragen und auf ihre Vereinbarkeit mit unseren gegenwärtigen Vorstellungen von Selbstbestimmung und Menschenwürde zu überprüfen. Aber man muss bei solchen Fragen Abwägungen vornehmen, in denen nicht, wie das bei den Kritikern von Beschneidungen in der Regel der Fall ist, Extremfälle im Vordergrund stehen. Denn die erwecken häufig den Eindruck, die Beschneidung sei zwingend ein traumatisches Erlebnis großer Schmerzhaftigkeit, das bleibende psychologische Folgen nach sich ziehen muss. Allein die Tatsache, dass – nach heutigem Kenntnisstand der Humanmedizin – nicht notwendige Beschneidungen in den Gesellschaften Nordamerikas, Japans und Koreas routinemäßig und massenhaft durchgeführt wurden und noch werden, sollte doch Anlass genug sein, hier den Regelfall zum Ausgangspunkt zu nehmen. Der ist eben bei sachgerechter Durchführung eine ungefährliche Operation mit wesentlich nur äußeren Folgen. Und die sachgerechte Durchführung ist im Judentum, wo dies dem Mohel, der dafür besonders ausgebildet wird, überlassen ist, fraglos die Regel.

Gerade deswegen muss die Bewertung auch von der Symbolik und dem – medizinisch gesehen – Normalfall der minimalen körperlichen Beeinträchtigung durch die Beschneidung ausgehen. Die Entscheidung der Eltern für eine Beschneidung ihres Sohnes sollte daher dann als im Kindeswohl stehend angesehen werden, wenn es sich dabei um die bewusste Entscheidung für die Fortführung einer körperlich ungefährlichen jahrtausendealten Tradition handelt. Dass die Eltern andererseits frei von dem Druck sein sollten, sich nur für eine Beschneidung entscheiden zu dürfen, ist eine Forderung, für die im Judentum vielleicht schon Platz ist. Vielleicht noch nicht.

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