In dieser Woche lesen wir den Wochenabschnitt Ha’asinu. Er enthält eine wunderschöne poetische Rede, in der sich Mosche an das jüdische Volk wendet. In dem Text geht es darum, zu G’tt zu beten, der das jüdische Volk ständig unterstützt: »Hört auf den Himmel, und ich werde reden, und die Erde wird die Rede meines Mundes hören. Meine Lehre soll regnen wie Regen, meine Rede soll fließen wie Tau, wie feiner Regen auf die grüne Decke und wie Tropfen auf das Gras. Wenn ich den Namen G’ttes ausspreche, gib unserem Allmächtigen die Ehre.«
Der Wochenabschnitt Ha’asinu wird immer kurz vor oder kurz nach Jom Kippur gelesen. Der Alter Rebbe, Rabbiner Schneur Zalman aus Liadi (1745–1813), der Gründer der chassidischen Chabad-Bewegung und Autor des berühmten Buches Shulchan Aruch Harav, sagte, dass wir immer eine Verbindung zwischen dem Wochenabschnitt und der aktuellen Zeit herstellen sollen, in der dieses Kapitel gelesen wird.
Im Laufe des Jahres sind wir mit größeren und kleineren Problemen in unserem Leben beschäftigt. Jeder versucht, die alltäglichen Herausforderungen zu meistern, um seine Ziele zu erreichen. Manchmal tragen unsere Bemühungen Früchte, manchmal scheitern wir.
realität An Jom Kippur haben wir uns in einer anderen Realität befunden – einer Realität, in der das Gebet alles verändern und uns helfen konnte, unsere Ziele zu erreichen. Viele von uns, die während des Jahres nicht in die Synagoge gegangen sind, haben es an diesem Tag getan und viel Zeit verbracht mit Beten und dem Lesen der Tehillim, zusammen mit den normalen Gebeten.
Im Gebet suchen wir die Verbindung zu G’tt. Es ist ein Akt, der vom Menschen kommt in seinem Bemühen, G’tt zu erreichen. Ein solcher Akt ist für jeden zu jeder Zeit angebracht. Die Seele eines Juden ist mit G’tt verbunden, aber sie wohnt im Körper. Der Körper ist so sehr von materiellen Dingen besessen, dass das Band zwischen der Seele und G’tt dünn werden kann und ständig gestärkt und erneuert werden muss. Das ist die Funktion des Gebets.
Das Gebet ersetzt nicht unsere Verpflichtung, nach den Gesetzen dieser materiellen Welt zu handeln, um unsere Ziele zu erreichen. Im Gegenteil, im Gebet bitten wir um den Segen, dass alle unsere Bemühungen erfolgreich sein mögen. Wir sind wahrscheinlich alle von der Richtigkeit der Worte des Verses überzeugt: »Viele Gedanken sind im Herzen eines Menschen, aber durch G’ttes Willen geschieht alles« (Mischlei 19,21).
Wir glauben, dass wir alles unter Kontrolle haben und nichts unsere Pläne durchkreuzen wird. Doch oft ist es so, dass plötzlich etwas Unvorhergesehenes geschieht und sich die Dinge dann doch anders entwickeln, als wir es uns erträumt oder vorgestellt hatten. In so einer Situation liegt es sicherlich an uns selbst zu handeln, um alle Komponenten unseres Lebens wieder auf den richtigen Weg zu bringen, aber nur G’tt kann für unseren Erfolg garantieren.
HILFE Die Hand des Allmächtigen führt uns durchs Leben. Manchmal sehen wir sie sofort und verstehen sie, manchmal sind ihre Wege verwirrend und unklar. Erst nach einer Weile wird uns klar, wie richtig das ist. Deshalb sagen Juden vor jeder wichtigen Handlung »Be’esrat Haschem«, was auf Deutsch »Mit G’ttes Hilfe« bedeutet. Ohne Seinen Wunsch und Seine Hilfe geschieht nichts in dieser Welt.
In Psalm 127,1 von König Schlomo, auch »Das Lied des Aufstiegs« genannt, heißt es: »Wenn G’tt das Haus nicht baut, so tun die, die es bauen, vergeblich; wenn G’tt die Städte nicht bewacht, so wacht der Wächter vergeblich. Vergeblich stehst du früh auf und sitzt spät und isst das Brot des Kummers, während er dem Geliebten gibt, wenn er schläft.«
In unserer aktuellen Parascha erhalten wir eine Anleitung dafür, wie bedeutungsvoll das Gebet ist und was wir alles damit erreichen können.
Vielleicht kann uns eine Geschichte dabei helfen, die Bedeutung des Gebets zu verstehen: Es war einmal ein König, der einen einzigen Sohn hatte. Der König beschloss, dass es für seinen Sohn gut wäre, in ein fernes Land zu gehen. Der König hoffte, dass der junge Prinz dort viel Weisheit und Erfahrung sammeln würde. Während dieser langen Reise gewöhnte sich sein Sohn an den Luxus und verlor sein Geld für Vergnügungen und Sinnesfreuden.
vater Nun war er allein in dem fremden Land, in dem niemand wusste, dass sein Vater ein großer Herrscher war. In seiner Verzweiflung beschloss der Prinz, nach Hause zurückzukehren. Aber er war so lange von seiner Heimat entfernt gewesen, dass er inzwischen die Sprache vergessen hatte.
Als er zurückkehrte, gab er den Umstehenden zu verstehen, dass er ein Königssohn sei, aber sie konnten ihn nicht verstehen. Schließlich erreichte er den Palast und versuchte, sich in einer Zeichensprache den Menschen zu erklären. Vergeblich. In seiner Verzweiflung schrie er aus Leibeskräften und hoffte, dass sein Vater ihn in den inneren Gemächern vielleicht hören, herauskommen und den wilden, zerlumpten Wanderer als seinen Sohn erkennen würde.
Und tatsächlich hörte der König einen verzweifelten Schrei, der ihn an die Stimme seines Sohnes erinnerte. Dieser Schrei erweckte in ihm die Liebe und das Mitgefühl eines Vaters, und er lief hinaus und sah sein Kind, umarmte und küsste es.
Diese Allegorie erklärt die Beziehung zwischen G’tt und dem Volk Israel, denn die Juden werden als Kinder G’ttes betrachtet. Die Seelen der Juden sind auf die Erde geschickt worden, um Weisheit zu erlangen – so wie der Prinz von seinem Vater auf eine lange Reise geschickt wurde.
Der Autor studiert am Rabbinerseminar zu Berlin.
inhalt
Der Wochenabschnitt Ha’asinu gibt zu einem großen Teil das »Lied Mosches« wieder. Mosche trägt es dem Volk vor und weist darauf hin, wie wichtig es ist. Er fordert die Israeliten auf, sich an den Werdegang der Nation und an ihre Vorfahren zu erinnern, die den Bund mit G’tt geschlossen haben. Das Lied erzählt von der Macht G’ttes und wie sie sich in der Geschichte der Welt gezeigt hat. Es erinnert an das Gute, das der Ewige dem Volk Israel zuteilwerden ließ, aber auch an die Widerspenstigkeit der Israeliten und die Bestrafung dafür. G’tt spricht zu Mosche und fordert ihn auf, auf den Berg Newo zu kommen. Von dort soll er auf das Land Israel schauen – betreten aber darf er es nicht.
5. Buch Mose 32, 1–52