In England gibt es in jedem Unternehmen eine feste Sitte: Gegen Ende eines Wirtschaftsjahres hat jeder Angestellte ein sogenanntes »appraisal talk« (Auswertungsgespräch) mit seinem Vorgesetzten. In Deutschland haben vor allem soziale Einrichtungen versucht, etwas Ähnliches einzuführen, doch das »Mitarbeitergespräch« wird hier oft eher als unangenehme Kontrolle empfunden.
Das Ziel des englischen »appraisal« aber ist es, Zeit für Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu schaffen, um gemeinsam zu prüfen, ob der Mitarbeiter sich immer noch wohlfühlt. Es geschieht in einer Atmosphäre beschützenden Wohlwollens, passend zur Einstellung des British Commonwealth, das die Aufgabe der Herrschenden darin sieht, die Möglichkeiten der von ihnen Abhängigen zu fördern (im Idealfall).
Vor einem Auswertungsgespräch muss der Arbeitnehmer einen Bogen ausfüllen, der Fragen wie diese enthält: Welches waren Ihre Ziele im vergangenen Jahr? Konnten diese Ziele erreicht werden? Wie waren – zum Beispiel an einer Universität – Ihre Leistungen im Blick auf Lehrveranstaltungen, Forschung und Weiterbildung? Was sind Ihre Ziele und Pläne für das kommende Jahr, und wie kann ihr Arbeitgeber Sie dabei unterstützen?
Buchprüfung In England fällt dieses sommerliche Auswertungsgespräch immer in die Zeit kurz vor oder in den Monat Elul und ist daher für englische Juden fester Bestandteil der Atmosphäre dieser Zeit. Die 40 Tage vor Jom Kippur sind ja in gewisser Weise auch eine Art Mitarbeitergespräch mit sich selbst, nur dass der jüdische Begriff nicht »appraisal time« (Auswertungszeit) ist, sondern »Cheschbon Nefesch« (Buchprüfung des Lebens).
In beiden Fällen aber geht es nicht um eine Selbstverurteilung, sondern um eine Chance, aus dem Leben des vergangenen Jahres zu lernen. Es geht um die Prüfung, wie nah oder fern unsere Realität inzwischen an unseren Idealen liegt und wie gut oder schlecht wir uns in die Vorstellungen unseres Judentums einfinden konnten und immer noch einfinden können.
Kein anderes Geschöpf ist zu einer solchen Bilanz fähig – nur der Mensch, der gerade darin seine Gottesebenbildlichkeit zum Ausdruck bringt, denn wie wir ist auch Gott in der Lage zu bereuen, von Plänen abzulassen und sich zu verändern, wie die Tora und die anderen Bücher des Tanach vielfältig zeigen und die Gebete der Hohen Feiertage voraussetzen.
Bräuche Etliche Bräuche haben sich in der jüdischen Tradition etabliert, die eine ähnliche Funktion erfüllen wie der Fragebogen des englischen Mitarbeitergesprächs. Einerseits leiten sie diese besondere Zeit ein und erinnern uns daran: Jetzt ist es wieder so weit! Die Zeit der Auswertung ist gekommen. Anderseits helfen sie uns, Aspekte zu finden, über die wir nachdenken könnten bei unserer Lebensauswertung. Wenn jemand spontan nur sagen würde: »Denk mal über dein Leben nach!«, ohne dass wir gerade in einer ernsten Lebenskrise wären, dann wüssten wir ja vielleicht gar nicht, auf welche der so vielen Erlebnisse und Aktionen unseres bisherigen Lebens wir uns konzentrieren und wozu wir über sie nachdenken sollten.
In manchen Gemeinden wird im Elul jeden Tag am Ende des Wochentags-Morgengebets das Schofar geblasen. Ursprünglich war sein Zweck mystisch: Es ging darum, Gott daran zu erinnern, unserer zu gedenken, doch heutzutage ist die ethische Deutung von Maimonides bekannter, der den Ton des Schofars verstand als Ruf: »Wacht auf vom Schlaf, ihr Schläfer! Wacht aus dem Tiefschlaf auf, ihr Eingeschlafenen! Prüft eure Taten und kehrt um. Erinnert euch daran, wer euch erschuf« (Hilchot Teshuva 3,4).
Sefardim beten zudem im Monat Elul jeden Morgen vor dem Morgengebet Selichot (Bitten um Vergebung), Aschkenasim beginnen damit erst in der Nacht zum Sonntag vor Rosch Haschana. Das Zentrum der Selichot ist die Aussage: »Adonai, Adonai, el rachum wechanun ...« (Ewiger, das ewige Wesen, Gott, barmherzig und gnädig, geduldig, von unendlicher Huld und Treue, der seine Huld dem tausendsten Geschlecht noch aufbehält, der Fehler, Übertretung und Sünde vergibt; 2. Buch Mose 34,6f).
Gottes Wesen steht dabei Modell für unser Wesen. Auch uns soll eine vergebende Einstellung prägen, sowohl uns selbst gegenüber im Blick auf unsere Schwächen und Versäumnisse als auch im Blick auf das Verhalten unserer Mitmenschen. Es ist übrigens leichter zu sagen: »Ich vergebe dir«, als selbst um Vergebung zu bitten. Am Ende jedes Gottesdienstes wird bei Aschkenasim außerdem Psalm 27 gesagt. Dieser wird damit zu einem Leittext für die Zeit vom 1. Elul bis zum Ende des Sukkot-Festes.
Mischna Es ist ein allgemeiner Brauch, Freunden und Bekannten Neujahrswünsche zu senden und so Beziehungen zu pflegen – und, wo nötig, zu heilen. Beziehungen sind der wichtigste Aspekt des Lebens, den man während des Monats Elul unter die Lupe nehmen sollte. Die Mischna lehrt: »Sünden des Menschen gegen Gott sühnt der Versöhnungstag, Sünden des Menschen gegen seinen Mitmenschen sühnt der Versöhnungstag nicht eher, als bis man seinen Mitmenschen besänftigt hat« (Mischna Joma 8,9; siehe auch Joma 85b). Jetzt, im Elul, geschieht diese zwischenmenschliche Versöhnung – oder spätestens in den zehn Tagen zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur.
Etliche Synagogen versenden im Elul E-Mails mit täglichen Studientexten, um dem Brauch nachzukommen, während des Elul das Studium der Tora zu intensivieren. In der Regel drehen sich die Lerninhalte um die Themen von Jom Kippur: Umkehr, Vergebung, Wohltätigkeit und Gebet. Die manchmal kurzen Zitate, manchmal längeren Gedanken eines Rabbiners oder einer Rabbinerin geben uns Hinweise, worüber wir nachdenken sollten in diesen Tagen.
Verlust Die Selbstauswertung im Elul betrifft aber nicht nur Fehler und Irrtümer, sondern auch Versäumnisse. Inwiefern haben wir unser Potenzial nicht genutzt? Wo sind wir aus eigener Nachlässigkeit hinter unseren Möglichkeiten zurückgeblieben? Manchmal mögen wir auch nur eine vage Ahnung haben, dass wir im Elul über etwas nachdenken sollten, aber nicht wirklich wissen, worüber.
Ein Gefühl, das der russisch-amerikanische Dichter Abraham Reisen (1876–1953) einmal zum Ausdruck brachte: »Ich glaube, ich habe etwas verloren,/unterwegs – ich weiß nicht was./Soll ich den ganzen Weg zurückgehn?/Schade drum, wenn ich’s einfach liegenlass./ (...)Mitten auf dem Weg bleib ich stehn,/ unruhig, vom Zweifel erfasst./Ich habe irgendetwas verloren,/ich weiß nicht was, ich weiß nur, dass ...«
Der Elul ist schließlich auch die Zeit der Spenden für wohltätige Zwecke, hebräisch »Zedaka«. Nicht nur Grüße von Verwandten, Freunden und Bekannten finden sich derzeit in unseren Briefkästen und E-Mail-Accounts, sondern auch die Aufrufe jüdischer Einrichtungen mit Bitten um Unterstützung. In der Hohen-Feiertags-Liturgie heißt es im Unetane-Tokef-Gebet dementsprechend: »Umkehr (Teschuwa), Gebet (Tefilla) und Spenden (Zedaka) können die empfundene Härte unseres Schicksals verwandeln.«
Der Begriff »Zedaka« bedeutet wörtlich Gerechtigkeit. Es geht darum, sich dafür einzusetzen, dass jeder Mensch sein Potenzial verwirklichen kann. Wenn dies nicht möglich ist, weil es an materiellen Mitteln fehlt, dann sollen diejenigen, die es können, Ausgleich schaffen. Die jüdische Tradition lehrt, dass jeder dazu fähig ist; auch ein Armer kann einen ihm gebührenden Beitrag zur Gerechtigkeit leisten und Zedaka geben.
Elul In einem Land wie Deutschland, dessen Gesellschaft stark von christlichen Werten geprägt ist, kann es manchmal schwierig sein, jüdische Teschuwa von christlichen Bußpraktiken zu unterscheiden. Es geht bei »Cheschbon Nefesch« nicht um reuige Zerknirschtheit oder negative Selbstkasteiung. Es ist überliefert, dass die Anfangsbuchstaben des Monates Elul – alef, lamed, waw, lamed – ein Akrostichon bilden für den Satz aus dem Hohelied: »Ich gehöre zu meinem Geliebten, und mein Geliebter gehört zu mir (ani ledodi wedodi li)«.
Das Hauptthema des Elul ist Liebe – Gottes Liebe zu uns, unsere Liebe zu unseren Mitmenschen und zu unserer Welt. Eine chassidische Geschichte erzählt, dass im Monat Elul Gott mit einem Herrscher verglichen werden kann, der seinen Thron und seine Herrscherrolle verlässt und durch das Land reist, um als Gleicher unter Gleichen vor Ort aus der Nähe zu erfahren, was die Menschen bedrückt, was sie tun und wonach sie sich sehnen.
Das ist der Grund unserer Selbstreflexion: die Gewissheit der Nähe Gottes und das Wissen um die positive Kraft des Lebens. Wir sehen uns im Spiegel unseres Ideals und versuchen Jahr für Jahr, die Wirklichkeit dem Modell anzugleichen.
Jom haKippurim, wie der Versöhnungstag liturgisch heißt, wird dann diese 40 Tage des Mit-Sich-Selbst-und-der-Welt-ins-Reine-Kommen, beschließen. 40 Tage sind in der Tora eine symbolische Zeit für einen Veränderungsprozess. Dem Midrasch zufolge bestieg Moses den Berg Sinai nach dem Vorfall mit dem Goldenen Kalb am 1. Elul und kam 40 Tage später am 10. Tischri (Jom Kippur) mit neuen Tafeln mit den Geboten wieder zurück (Paraschat Ki Tissa, 2. Buch Mose 32–34).
Bei dieser Gelegenheit hörte Mose der Tora zufolge dann auch Gottes 13 Eigenschaften der Vergebung und Barmherzigkeit. Jom Kippur ist eine große positive Feier der Reinheit der Seele und des unbelasteten Neuanfangs, die Feier der Dankbarkeit für unser Jüdischsein. Die Gebete und Texte von Jom Kippur blicken lediglich noch einmal zurück auf diesen Monat Elul und die zehn Bußtage im Tischri und besiegeln diese Auswertungszeit, damit wir uns dann voller Freude daran machen zu können, die Hütte des Lebens erneut und hoffnungsvoll zu bauen: an Sukkot.
Die Autorin ist Dozentin für Liturgie am Leo Baeck College in London.