Nach Anordnung der Weisen (Megilla 31a) liest man an Rosch Haschana eine Tora-Passage, die von der Geburt unseres Stammvaters Jizchak berichtet. Diese Lesung beginnt mit den Worten: »Und der Ewige bedachte Sara, wie er es gesagt hatte« (1. Buch Mose 21,1). Von Gottes Vorsehung ist hier die Rede. Dieser Begriff bezeichnet das spezielle Eingreifen des Allmächtigen zur entsprechenden Gestaltung eines individuellen oder kollektiven Schicksals.
Warum liest man den Abschnitt über Jizchaks Geburt gerade an Rosch Haschana? Weil seine bis dahin unfruchtbare Mutter an diesem Tag bedacht wurde. Wie der Talmud (Rosch Haschana 10b und 11a) feststellt, wurden Sara, Rachel und Channa, die nach Zeugnis der Schrift an Kinderlosigkeit litten, an Rosch Haschana erhört.
Channa litt sehr unter ihrer Unfruchtbarkeit. In Schilo bat sie im Haus des Ewigen um ein Kind.
Am Neujahrstag, den man sowohl Jom Hasikaron (Tag des Gedenkens) als auch Jom Hadin (Tag des Gerichts) nennt, prüft Gott das Leben der Menschen und fällt über sie ein Urteil. Er bestimmt die Zukunft jedes Individuums. In der Mischna heißt es: »Am Neujahrsfest ziehen alle Weltbewohner an Ihm wie im Hammelsprung vorüber« (Rosch Haschana 1,2).
Als Haftara, die Lesung aus den Propheten, haben unsere Weisen für den ersten Tag Rosch Haschana die Erzählung von der Geburt des Propheten Schmuel bestimmt. Der Anknüpfungspunkt an die vorhergehende Tora-Lesung ist nicht schwer zu finden: Sara wurde an Rosch Haschana bedacht und so auch Channa, Schmuels Mutter.
chance Wie Rabbiner Jehuda Shaviv bemerkt, sollen uns sowohl die Tora-Lesung als auch die Haftara am ersten Tag von Rosch Haschana an die Tatsache erinnern, dass der Ewige alle Geschöpfe am Anfang des Jahres beurteilt. Dabei wird nicht die Furcht vor dem Gericht hervorgehoben, sondern vielmehr die Hoffnung, die Chance einer Änderung zum Guten – wir erfahren nämlich: An diesem Tag wurden Kinderlose bedacht.
Die Haftara (1 Schmuel 1,1 bis 2,10) vergegenwärtigt nicht nur das Motiv der göttlichen Vorsehung. Dieser Text enthält noch weitere Lehren, die für unsere religiöse Praxis von Bedeutung sind. Ihre Kinderlosigkeit verursachte Channa schrecklichen Kummer. Deshalb betete sie im Haus des Ewigen zu Schilo um ein Kind – und ihr inniges Gebet wurde erhört! Diese Geschichte zeigt uns, dass wir ein persönliches Anliegen Gott vortragen dürfen. Gabriel H. Cohn hat betont, dass wir unsere Bitten, wie Channa, mit der nötigen Bescheidenheit vorbringen sollten.
Im Talmudtraktat Berachot (31a) lesen wir: »Rav Hamnuna sagte: Viele wichtige Halachot (Vorschriften) sind zu entnehmen aus jenen Versen von Channa. ›Sie redete in ihrem Herzen‹ – hieraus, dass der Betende sein Herz andächtig stimmen muss. ›Nur ihre Lippen bewegten sich‹ – hieraus, dass der Betende mit seinen Lippen deutlich spreche. ›Und ihre Stimme wurde nicht gehört‹ – hieraus, dass man beim Beten die Stimme nicht erheben darf. ›Und Eli hielt sie für eine Betrunkene‹ – hieraus, dass der Betrunkene das Gebet nicht verrichten darf.«
Bemerkenswert ist, wie stark eine bestimmte Frau, die freilich eine Prophetin war (Megilla 14a), das jüdische Gebetsleben beeinflusst hat. Hervorzuheben ist die Tatsache, dass Channa ihre dringliche Bitte mit einem Gelübde verknüpft hat: »Ewiger der Scharen, wenn Du sehen wirst auf das Elend Deiner Magd und meiner gedenkst und Deine Magd nicht vergisst und Deiner Magd männlichen Samen gibst, so will ich ihn dem Ewigen weihen alle Tage seines Lebens« (1 Schmuel 1,11).
Was mag der Sinn dieses Gelübdes sein? Channa erklärte in einer verbindlichen Form, sie sei zu einem Verzicht bereit. Sollte das Ersehnte und Erbetene eintreten, dann würde sie auf das Sorgerecht verzichten und ihren Sohn Gott weihen. Können wir uns ein größeres Opfer einer Mutter vorstellen?
OPFER In seinem Buch über die Haftarot wirft Rabbiner Moshe Lichtenstein eine interessante Frage auf: Was ist der gemeinsame Nenner, der zu Saras, Rachels und Channas Erlösung von ihrer Kinderlosigkeit geführt hat? Seine Antwort auf diese Frage lautet: Die genannten drei Frauen waren zu einem schmerzlichen Opfer bereit. Über Sara steht in der Tora: »Da nahm Sarai, Awrams Frau, die ägyptische Hagar, ihre Magd, (…) und sie gab sie Awram, ihrem Mann, ihm zur Frau« (1. Buch Mose 16,3).
Auch Rachel war bereit, eine Nebenfrau (ihre Schwester Lea) zu dulden; sie verzichtete auf eine monogame Ehe. Was Channa angeht, so verweist Rabbiner Lichtenstein auf das Gelübde, das sie sprach. Er hätte zusätzlich auf einen Midrasch hinweisen können, aus dem hervorgeht, dass es die kinderlose Channa war, die ihrem Mann, Elkana, riet, eine zweite Frau (Pnina) zu heiraten.
Aus den drei Fällen dürfen wir den Schluss ziehen: Wer bereit ist, um eines höheren Zieles willen selbstlos auf etwas zu verzichten, das ihm beziehungsweise ihr wichtig ist, dessen Gebet wird von Gott erhört! Diesen Lehrsatz sollte jeder Beter kennen und in der Praxis berücksichtigen.
In den zehn Tagen der Umkehr (von Rosch Haschana bis Jom Kippur) schaltet man den folgenden Satz in den ersten Segensspruch des Achtzehngebets ein: »Gedenke unser zum Leben, König, der Du Freude am Leben hast, und schreibe uns in das Buch des Lebens ein um Deinetwillen, lebendiger Gott!« Wie verträgt sich diese Einschaltung mit der halachischen Regel, dass man in den ersten drei Segenssprüchen keine Bitten erwähnen sollte?
Rabbiner Chaim Kreiswirth erläuterte die scheinbar problematische Stelle in einer seiner Predigten: Die zitierte Einschaltung ist in erster Linie eine Selbstverpflichtung und nicht als eine falsch platzierte Bitte zu verstehen. Die betende Person braucht Leben, um für den Ewigen tatkräftig wirken zu können (»um Deinetwillen, lebendiger Gott«).
Der Autor ist emeritierter Professor für Psychologie und lebt in Jerusalem.