Nach der Erschaffung der Welt macht G’tt den Menschen – dies ist der Höhepunkt der Schöpfungsgeschichte. Der Mensch erhält einen besonderen Status: »Und G’tt sprach: Lasst uns Menschen machen, nach unserem Bild uns ähnlich; und sie sollen herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel des Himmels und über das Vieh auf der ganzen Erde, auch über alles, was auf Erden kriecht« (1. Buch Mose 1,26).
Das hat mehrere Konsequenzen. Nach dem Ebenbild G’ttes erschaffen zu sein, bedeutet, eine große Ähnlichkeit mit G’tt zu haben. Auch wenn der Mensch niemals G’tt gleich sein kann (nicht einmal annähernd), so ist er doch einzigartig und nach dem Rambam, Maimonides (Führer der Verirrten, I, 52–53) in der Lage, dem Ewigen näherzukommen durch ein »Nachahmen« G’ttes und Seiner Taten, also durch Liebe, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit.
Der Mensch wird zugleich eine Art Stellvertreter G’ttes auf Erden, der nach Rabbiner Joseph B. Soloveitchik (Lonely Man of Faith, 1965) helfen soll, die Schöpfung zu vervollständigen. Der Mensch erhält auch Unabhängigkeit und einen freien Willen. Diese Freiheit ist vielleicht das größte Geschenk G’ttes an uns, aber leider bedeutet das auch, dass sie missbraucht werden kann. Kaum erschaffen, essen Adam und Chawa vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, obwohl G’tt es ausdrücklich untersagte – die erste Demonstration des freien Willens des Menschen und auch zugleich seiner Emanzipation beziehungsweise Entfremdung von G’tt.
Big Bang Vor 5776 Jahren wurden Adam und Chawa erschaffen – nicht aber die Welt, wie es oft in unserer Tradition heißt. Die Tage davor dürfen wir nämlich nicht wortwörtlich als 24-Stunden-Tage verstehen, sondern als Phasen der Erschaffung der Welt, die auch viele Millionen Jahre gedauert haben könnten und übrigens den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen zu den Ursprüngen des Universums und auch der Big-Bang-Theorie erstaunlich ähneln. Der Rambam, Maimonides (1138–
1204), schreibt, dass nicht nur die Schöpfungsgeschichte, sondern grundsätzlich alle frühen Geschichten der Tora (bis Awraham) allegorisch zu verstehen sind.
Demnach sind die Geschichten von Adam und Chawa und auch von Kajin und Hewel vor allem Metaphern für den Charakter des Menschen und seine Unabhängigkeit von G’tt. Diese Narrative erklären vielleicht nichts weniger als die Geschichte der Menschheit und einen großen Bruch. Die gesamte Menschheit stammt von Adam und Chawa ab, und selbst die Wissenschaft bestätigt eine einzige Urmutter – so die Ergebnisse einer Studie des South African Institute for Medical Research. Danach lebte die Menschheit in einem Garten Eden, einem Paradies, völlig im Einklang mit der Natur. Die Wissenschaft würde von der Zeit als Jäger und Sammler sprechen.
Doch vor ungefähr 6000 Jahren veränderte sich alles. Nachdem Adam und Chawa von dem Baum der Erkenntnis gegessen hatten, kleideten sie sich, verließen den Garten Eden, wurden sesshaft, und der Mensch musste sich fortan alles »im Schweiße seines Angesichts« (1. Buch Mose 3,19) erarbeiten. Das beschreibt den Übergang vom Nomadenleben zur Sesshaftigkeit, der sich nach wissenschaftlichen Erkenntnissen vor rund 6000 Jahren vollzog.
Zivilisation Die moderne Wissenschaft kann nicht erklären, warum der Mensch sesshaft wurde, die Tora hingegen gibt eine Antwort: Der Mensch wollte wissen, und das ging nicht in einer Nomadengesellschaft. Nur durch die Sesshaftigkeit, den Ackerbau und damit den Aufbau einer modernen Zivilisation, die sich Arbeiten teilt und es sich damit leisten kann, einige Menschen nicht arbeiten zu lassen, die dann als Lehrer fungieren, kann Wissen kumuliert und weitergegeben werden.
G’tt selbst zeigt deutlich, was er für das Beste für den Menschen hält: Er möchte nicht, dass der Mensch vom Baum der Erkenntnis isst. Das zeigt vielleicht, dass G’tt denkt, dass ein letztlich perfektes, paradiesisches Leben im Einklang mit der Natur besser ist für den Menschen als die Errichtung einer städtischen Zivilisation. Auch in der Geschichte von Kajin und Hewel favorisiert G’tt den nomadischen Schafhirten Hewel, nicht den Ackerbauern Kajin (1. Buch Mose 4, 4–5).
Die Tora erzählt aber auch, wer sich letztlich durchsetzt: der sesshafte Ackerbauer. G’ttes Skepsis gegenüber dem menschlichen Wunsch nach Zivilisation und Wissen bewahrheitet sich leider am Ende unserer Parascha und im kommenden Wochenabschnitt. Durch den Missbrauch des freien Willens verursacht der Mensch viel Schlechtes. G’tt schreitet zwar ein durch die Flut und versucht das Böse, das der Mensch in die Welt gebracht hat, auszulöschen. Doch es nützt nichts, schon die nächste Generation baut den Turm zu Babel, was metaphorisch für den Allmachtswahn der zivilisierten Menschheit steht und seiner Technologie und Wissenschaft.
Zugeständnis Trotzdem gesteht G’tt dem Menschen letztendlich seine eigenen Entscheidungen und damit seinen freien Willen zu. Da selbst die Flut nicht geholfen hat, versucht G’tt dann scheinbar eine neue Strategie: Er erwählt einen Gerechten, der durch Prüfungen seine Charakterstärke und seinen Glauben beweist. Und dieser Mann, Awraham, gründet dann ein Volk, ein heiliges Volk, das G’tt als Beispiel für alle Völker erwählt. Da der Mensch Orientierung und klare Regeln braucht, schenkt G’tt der Menschheit die Tora mit den Mizwot, den Geboten und Verboten.
Die Tora soll für uns ein Leitfaden sein, wie man in dieser Welt leben kann, ohne dass es auf Kosten anderer oder der Natur passiert. Sie soll Orientierung geben und Werte vermitteln. Dabei ist sie sehr modern, mit einer Menge von Fallstudien und Praxisbeispielen, die zeigen, dass es nichts gibt, was es nicht schon gegeben hätte. Die Tora eröffnet uns die Möglichkeit, aus den Fehlern anderer, die vor uns waren, zu lernen, damit wir es selbst besser machen.
Ich möchte Sie einladen, die Tora im Laufe dieses neuen Jahres zu sondieren und zu analysieren, und ich hoffe, dass Sie darin Inspiration für Ihr eigenes, ganz persönliches Leben finden werden.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf.
Inhalt
Mit dem Wochenabschnitt Bereschit fängt ein neuer Jahreszyklus an. Die Tora beginnt mit zwei Berichten über die Erschaffung der Welt. Aus dem Staub der aus dem Nichts erschaffenen Welt formt der Ewige den Menschen und setzt ihn in den Garten Eden. Dieser Mensch hat zunächst beide Geschlechter und wird nun erst getrennt. Den Menschen Adam und Chawa wird verboten, vom Baum der Erkenntnis zu essen, der inmitten des Gartens steht. Doch weil sie – verführt von der Schlange – dennoch eine Frucht vom Baum essen, weist sie der Ewige aus dem Garten. Draußen werden ihnen zwei Söhne geboren: die Brüder Kajin und Hewel. Der Ältere der beiden, Kajin, tötet seinen Bruder Hewel.
1. Buch Mose 1,1 – 6,8