Jischmael! Er ist unser Onkel, und seine Kinder sind unsere Cousins, wir sind also eine Familie. Es ist bekannt, dass sich dieses Verhältnis sehr kompliziert entwickelt hat, vor allem im vergangenen Jahrhundert. Davor lebten Juden in vielen jischmaelitischen Ländern ziemlich friedlich und nicht schlechter als in christlich geprägten Ländern.
Es gibt ein großes Potenzial für das gegenseitige Verständnis: Die Kinder Awrahams beten zu demselben G’tt. Sie alle glauben an Seine Einzigartigkeit und vermischen mit Ihm keine weitere Führungsperson, die mit Ihm vergleichbar wäre. Die Wege, wie man Seine Nähe erreichen kann, sind anders, doch das gemeinsame Ziel besteht darin, Ihm zu dienen.
Erst ein paar Tausend Jahre nach Jischmaels Tod hat sich seine Religion institutionalisiert. Umso wichtiger ist es, dass wir uns in der Tora über sein Leben informieren. Es lohnt sich, die Geschichte genau zu betrachten. Vielleicht können wir dadurch ein anderes Verhältnis zu unserem Onkel Jischmael entwickeln.
BEERDIGUNG Die jüdische Tradition erzählt interessant über das Leben Jischmaels: Als Awraham starb, kam Jischmael zu seiner Beerdigung. »Jizchak und Jischmael, seine Söhne, begruben ihn in der Höhle Machpela« (1. Buch Mose 25,9). Obwohl Jischmael Awrahams älterer Sohn war, wird Jizchak bei der Beerdigung als Erster erwähnt. Jischmael erhält Lob dafür: Er »hat Teschuwa gemacht und ließ Jizchak als Ersten Awraham begleiten, und er folgte ihm nach« (Raschi, Midrasch Raba).
Dies war ein außergewöhnlicher Moment im Leben der Brüder. Schon als Jizchak klein war, gab es Spannungen zu Hause. Jischmael versuchte, Jizchak negativ zu beeinflussen. Ständig provozierte er ihn, er wollte Awraham auf sich aufmerksam machen. Sara war sehr verärgert darüber und befahl ihrem Mann Awraham, Jischmael und seine Mutter Hagar fortzuschicken. Sara begründete dies und erklärte mit deutlichen Worten, was sie von den beiden hielt: »Sie sprach zu Awraham: ›Vertreibe diese Sklavin und ihren Sohn, denn nicht soll der Sohn dieser Sklavin mit meinem Sohn, mit Jizchak, erben‹« (1. Buch Mose 21,10).
Beide, Hagar und Jischmael, werden hier nicht mit Namen genannt. Sie erhalten Bezeichnungen, die erklären, wie ihre Umwelt sie behandeln soll.
Jischmael, der »Sohn der Sklavin«, fühlte sich sicher im Haus von Awraham. Er wurde erst mit 13 Jahren beschnitten. Dies ist ein anderes Gefühl als im Alter von acht Tagen wie bei Jizchak. Es tut weh, und man kann es ablehnen.
Held Jischmael aber war einverstanden mit der Beschneidung und sah sich dadurch seinem kleinen Bruder Jizchak gegenüber als Held. Jizchak jedoch blieb nicht still, sondern erwiderte seinem Bruder, dass er bereit wäre, sein Leben für G’tt zu opfern. Daraufhin kam der Befehl der Bindung Jizchaks, und der Junge geriet in Lebensgefahr (Raschi 22,1).
Um das Erbe wird leider oft gestritten. Jischmael wollte seine Ziele durchsetzen. Er sagte zu Jizchak: »Als Erstgeborener habe ich das Recht, zweimal mehr vom Erbe Awrahams zu bekommen« (Raschi 21,10). Darauf erwiderte Sara: »Er soll gar nicht mit Jizchak erben! Weder materiell noch geistig.«
Aber Jischmael wird zum großen Volk. Lange Zeit hat Awraham gefürchtet, dass er mit seiner Frau Sara keine Kinder bekommt. Doch der Ewige verspricht ihm einen Sohn. Da fragt Awraham sofort: »Und was wird dann mit Jischmael?« Daraufhin erwidert der Ewige: »Auch für Jischmael erhöre Ich dich. Da, Ich habe ihn gesegnet, Ich lasse ihn Frucht tragen, lasse ihn sich mehren, reich, überreich. Zwölf Fürsten wird er zeugen, Ich werde ihn zu einem großen Stamm machen« (17,20).
Aber G’tt sagt auch: »Meinen Bund werde Ich jedoch mit Jizchak errichten« (17,21). Jischmael kann zum großen Volk gemacht werden, doch dadurch wird er Awraham nicht beerben. Der Bund wird mit Jizchak geschlossen, er ist Awrahams offizieller Nachfolger.
Fürsten Trotzdem erwähnt die Tora die zwölf Fürsten Jischmaels. Aber der Midrasch kritisiert dies. Die Rabbiner fragen sich, warum die Familie dieses »Bösen« erwähnt wird (Midrasch Raba 62,5). Da Jischmael aber Teschuwa gemacht hat, ist er ein Zaddik geworden, und die Tora erzählt gern von den Kindern der Zaddikim (Midrasch und Ramban 25,17). Dennoch ist der Unterschied zwischen den zwölf Fürsten Jischmaels und den zwölf Stämmen Israels deutlich.
Rabenu Chananel (990–1053) will uns aber Hoffnung machen: »Wir haben gesehen, dass dieses Versprechen für die Kinder Jischmaels erst nach 2333 Jahren erfüllt wurde«, schreibt er im 11. Jahrhundert und bezieht sich darauf, dass sich der jischmaelitische Glaube erst im Jahr 622 n.d.Z. auszubreiten begann. »Dies zeigt uns«, schreibt Rabenu Chananel, »dass, auch wenn wir schon lange auf unsere Erlösung – den Bund mit Jizchak – warten, wir unsere Hoffnung nicht aufgeben sollten, dass das Versprechen erfüllt wird.«
Er bezieht sich dabei auf den Vers: »Siehe, ich habe ihn (Jischmael) gesegnet, werde ihn fruchtbar machen und sehr vermehren. Zwölf Fürsten wird er zeugen. Ich will ihn zu einem großen Volk machen« (1. Buch Mose 17,20).
EINTRACHT Trotz der Schwierigkeiten zwischen Jischmael und Jizchak, von denen wir in der Tora lesen, haben beide am Ende den Weg zueinander gefunden. Jischmael hat damals Teschuwa gemacht und wusste Jizchak zu schätzen. Beide Brüder waren ihrem Vater Awraham gleichermaßen lieb und zugleich besonders.
Umso mehr sollten beide auch in unseren Zeiten Wege zueinander finden. In der Regel wünscht man sich, der andere möge den ersten Schritt tun. Doch von Jizchak und Jischmael können wir lernen: Es lohnt sich, alles dafür zu tun, dass eines Tages zwischen den Kindern Awrahams wieder Frieden und ein gutes geschwisterliches Verhältnis herrschen.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Frankfurt/Main und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).
inhalt
Der Wochenabschnitt Chaje Sara beginnt mit Saras Tod und dem Kauf der Grabstätte »Mearat Hamachpela« durch Awraham. Dieser Kauf wird sehr ausführlich geschildert. Später beauftragt Awraham den Knecht Elieser, für seinen Sohn eine passende Frau zu suchen. Er findet in Riwka die richtige Partnerin für Jizchak. Auch Awraham bleibt nicht allein: Er heiratet eine Frau namens Ketura. Schließlich stirbt er und wird in der Höhle begraben, in der auch Sara beigesetzt ist.
1. Buch Mose 23,1 – 25,18