In seinem Buch über die Mizwot schreibt Rabbiner Samson Raphael Hirsch, der Begründer der deutschen Neo-Orthodoxie: »Nicht nur dir und den deinigen sei dein Haus eine Stätte des Wohlseins. Jedem Speise- und Trank- und Obdachbedürftigen stehe dein Haus offen; vor allem für den Fremden, den nur seine Gotteskindschaft als Empfehlung dir bringenden, gastfrei nimm ihn auf.«
An die Pflicht, Gäste zu sich einzuladen, werden Juden tagtäglich im Morgengebet erinnert. Gastfreundschaft ist Teil einer Liste der Dinge, deren Früchte der Mensch im Diesseits genießt, deren Stamm aber für die kommende Welt erhalten bleibt. Ein doppelter Lohn wird also Menschen zugesagt, die Gastfreundschaft ausüben.
Höflichkeit Zu den elementaren Regeln der Höflichkeit gehört es, dass Gäste sich für die Bewirtung bedanken. Im Babylonischen Talmud (Berachot 46a) heißt es, der Gast solle den Hausherrn im Rahmen des Tischgebets segnen. Man spricht von Birkat HaOreach (Segensspruch des Gastes).
Der Talmud stellt und beantwortet die Frage, welchen Segen der Gast zu sprechen hat: »Möge es Sein Wille sein, dass der Hausherr in dieser Welt nicht beschämt und in der zukünftigen Welt nicht zuschanden werde. (...) Möge er in all seinem Besitztum viel Glück haben; seine sowie unsere Güter mögen gedeihen und der Stadt nahe sein. Möge der Satan keine Macht haben über die Werke seiner Hände, noch über die Werke unserer Hände. Kein Gedanke der Sünde, der Übertretung und des Vergehens komme ihm sowie uns in den Weg, von jetzt an bis in Ewigkeit.«
Es fällt auf, dass in diesem Tischgebet (wie im oben erwähnten Morgengebet) sowohl von dieser als auch von der kommenden Welt die Rede ist. Hervorzuheben ist ebenfalls, dass der Gast nicht nur für den Hausherrn betet, sondern bei dieser Gelegenheit auch für sich selbst.
Kodex Da der im Talmud formulierte Text von Birkat HaOreach in den heute gültigen Kodex Schulchan Aruch (Orach Chajim, Kapitel 201,1) übernommen wurde, ist es erstaunlich, dass nicht alle Gebetbücher beziehungsweise Benschblätter diesen Segensspruch erwähnen.
Wohl finden wir den Segen für den Hausherrn im Siddur Schma Kolenu (Basel 1996). Allerdings ist anzumerken, dass die Übersetzung der letzten Bitte offensichtlich fehlerhaft ist: »Und lasse uns von jetzt und für immer keinen bösen Gedanken nachhängen.« Hier denkt der Beter nur an sich – und hat den Gastgeber anscheinend ganz vergessen!
Eine andere Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt: Was ist zu tun, wenn eine Witwe als Gastgeberin fungiert? Es wäre geradezu taktlos, beim Tischgebet an den verstorbenen Hausherrn zu erinnern. In diesem Fall muss der Gast Birkat HaOreach so umformulieren, dass die Bitten für eine Frau gelten und nicht für einen Mann.
Hausherrin Im Siddur Bet Tefilla (Jerusalem 1998) findet man Birkat HaOreach übrigens in zwei Versionen – für den Gastgeber beziehungsweise für die Gastgeberin. Diese Differenzierung ist von der Sache her logisch, und es führt kein Weg an ihr vorbei. Warum sollten Gäste einer Frau, die sie bewirtet, Birkat HaOreach vorenthalten?
Übrigens ist Birkat HaOreach nicht nur in privaten Wohnzimmern, beim Kiddusch im Gemeindesaal und bei Hochzeiten zu sprechen, sondern auch bei vielen anderen Gelegenheiten, zum Beispiel bei Dinners, die von Organisationen finanziert wurden. Danken sollen wir aber nicht nur namentlich bekannten Gastgebern, sondern auch unbekannten Sponsoren. Daher haben einige Halachisten die Ansicht vertreten, dass Schüler und Schülerinnen verpflichtet sind, am Mittagstisch ihrer Ausbildungsinstitutionen Birkat HaOreach aufzusagen.
Die Erziehung zur Dankbarkeit ist ein zentrales Anliegen des Judentums. Denn wie oft danken Juden Gott im Gebet? Man sollte aber auch keine Gelegenheit auslassen, dem Mitmenschen Dank auszudrücken. Birkat HaOreach hilft uns bei der Erfüllung dieser niemals endenden Aufgabe.