Pro
Zwei Juden, drei Meinungen», besagt ein bekanntes Sprichwort. Unsere jüdischen Gemeinden in Deutschland sind autonom, und das ist gut so. Das Judentum ist, anders als manch andere Religion, nicht hierarchisch gegliedert, es gibt keine unliebsamen und unpassenden Vorschriften von oben – wie praktisch, wie sympathisch, wie zeitgemäß! Selbstbestimmung als ideal gelebter Wert – ganz im Geiste der Aufklärung: «Ein jeder möge nach seiner Fasson glücklich werden».
Doch die Wahrheit ist, dass dieser Zustand sowohl geschichtlich als auch in unseren Quellen vom Ideal weit entfernt ist. In der Tora finden wir klare hierarchische Strukturen mit verbindlichen Autoritäten, wie beispielsweise das Sanhedrin – den Obersten Gerichtshof (5. Buch Mose 17, 8–11), die Aufseher (5. Buch Mose 16,18), als auch den König (5. Buch Mose 17, 14–20). Es handelt sich hierbei um eine Art der frühen Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative – der damaligen Zeit weit voraus!
Diese Strukturen begleiteten das jüdische Volk während einer Periode von etwa 1000 Jahren. Mit der Zerstörung der Tempel betrauern wir nicht nur den Verlust der Unabhängigkeit und der Selbstbestimmung, sondern auch der damit verbundenen Autoritäten! Insbesondere der Zusammenhalt und die Einheit des Judentums, durch diese Einrichtungen gewährleistet, waren nun gefährdet.
Die Einheit im Judentum ging uns in der Diaspora allerdings nicht verloren – sie wurde insbesondere durch die Bücher der mündlichen Überlieferung und der Halacha kommentiert und erweitert und durch die großen Gelehrten, deren Pfaden wir weiter folgen, gesichert. Von diesen lässt sich jede Gemeinde und jeder Rabbiner, die Verantwortung vor G’tt und der jüdischen Gemeinschaft auf sich nehmen, leiten. Doch vollkommen ist dieser Zustand nicht.
Mit der Rückkehr nach Israel und der Schaffung eines Oberrabbinates in Israel sind wir prophetischen Visionen ein großes Stück nähergekommen, wie etwa: «Denn von Zion wird die Lehre ausgehen, und das Wort G’ttes von Jerusalem». Das Oberrabbinat ist dafür verantwortlich, einheitliche Standards zu schaffen, an denen sich alle orientieren können, um so den inneren Zusammenhalt zu stärken, insbesondere in der heutigen Zeit der hohen Mobilität und der engen internationalen Vernetzung.
Im Fokus stehen hierbei vor allem die Bereiche Kaschrut und Fragen des Personenstands sowie des Familienrechts. Auch kann die jüdische Religion gesamthaft repräsentiert werden, wodurch das Ansehen des Judentums steigt. Natürlich gibt es, wie in vielen zentralisierten Systemen, auch vielseitige Herausforderungen und manche Schwächen. Der Kontakt und die Nähe zu allen Volksschichten sowie eine hohe Transparenz im System sind unerlässlich, um Gefahren der Entfremdung und der Korruption vorzubeugen.
Ebenfalls muss eine gut funktionierende Vernetzung mit der Diaspora-Gemeinschaft gewährleistet sein. Durch die enge und vertraute Zusammenarbeit der Orthodoxen Rabbinerkonferenz (ORD) mit dem Oberrabbinat sind wir in Deutschland in der guten Situation einer wohl funktionierenden Verbindung in gegenseitiger Anerkennung und beiderseitigem Vertrauen.
Einen ähnlichen Weg geht das Oberrabbinat nun verstärkt durch die Regelung eines Abkommens, welches vergangenen November mit der Europäischen Rabbinerkonferenz (CER) sowie mit der Amerikanischen Rabbinerkonferenz (RCA) in Berlin geschlossen wurde und das wichtige Brücken zwischen den religiösen Vertretern der größten jüdischen Weltgemeinschaften schlägt.
Nach wie vor soll die Vielfalt der Meinungen in der jüdischen Gemeinschaft ihren Platz haben, und nach wie vor ist das Ortsrabbinat maßgeblich für die religiöse Ausrichtung und inneren Entscheidungen einer Gemeinde. Doch das Oberrabbinat gibt hierfür eine einheitliche Orientierung, setzt Standards und stärkt die Ortsrabbinate von Israel aus. Möge dies die Einheit des jüdischen Volkes weiter stärken!
Rabbiner Jaron Engelmayer ist Mitglied im Beirat der Orthodoxen Rabbinerkonferenz (ORD) und Rabbiner der Synagogen-Gemeinde Köln.
contra
Bis die Verheißung in Erfüllung gehen wird, dass die Tora von Zion ausgeht und das Wort des Herrn aus Jerusalem, wäre das Zugestehen einer zentralen Entscheidungsvollmacht an das Oberrabbinat von Israel eine Katastrophe für die Einheit der weltweiten jüdischen Gemeinschaft.
Ausschlaggebend für solch eine verdammende Einschätzung ist weniger die mangelnde Verankerung jedwelches Oberrabbinats – in welcher Benennung auch immer – in der jüdischen Tradition, als die Feststellung, dass die Struktur, Besetzung und Amtsausübung des Oberrabbinats Israels in unserer Zeit zu einer verheerenden Spaltung und Zersplitterung der jüdischen Gemeinden führen würde.
Der lamentable Ist-Zustand dieser Institution ist allen, die ideologisch nicht verblendet sind, offensichtlich. Das, was schlussendlich eine hehre spirituelle Instanz sein sollte, hat sich zu einem bürokratischen Kraken entwickelt, der jenseits aller Transparenz und Rechenschaftspflicht das Personenrecht des Staates Israel in seinem Würgegriff hält.
Als Beispiel muss man nur die kürzlich abgehaltenen «Wahlen» der neuen Oberrabbiner von Israel nehmen oder die willkürliche Aberkennung der Autorität und Glaubwürdigkeit bekannter und geachteter orthodoxer Rabbiner aus den USA.
Näher zu Hause erinnert man sich an die unerbetene und mit unseren führenden politischen Instanzen nicht abgesprochene Intervention eines der israelischen Oberrabbiner in die Beschneidungsdebatte. Die Nichtbeachtung und Ausgrenzung der millionenfachen Mitgliedschaft der nicht orthodoxen Gemeinden weltweit ist belegte Tatsache.
Auf breiterem Horizont kommt hinzu, dass eine hierarchische Struktur dem Judentum eigentlich fremd ist und eine Art von nachahmender Neuerung darstellt, auf die wir gut verzichten können. Ein schlagender Beweis, dass nicht jede Reform hilfreich ist: Die meisten großen wie auch kleineren jüdischen Gemeinden, zum Beispiel Russland, Polen, Deutschland, die USA et cetera hatten nie ein Oberrabbinat.
Da, wo solche Institutionen entstanden, wurden sie meist von der weltlichen Herrschaft eingesetzt, öfters zwecks leichterer Kontrolle und Kommunikation mit der untergebenen Judenheit und für das Einsammeln der den Juden auferlegten Steuern.
Dort, wo man in jüdischen Gemeinden Autoritäten anerkannte und ihre Entscheidungen annahm und befolgte, geschah dies freiwillig aufgrund deren Gelehrsamkeit, Weisheit und offensichtlicher Liebe zu G’tt und Israel. Sie waren charismatische und überzeugende Persönlichkeiten.
Weder Raschi noch der Rambam trugen den Titel «Oberrabbiner». Auch nicht der Baal Schem Tov, der Gaon von Wilna (Elijah Ben Salomon Salman), Leo Baeck (liberale Führungsfigur und wichtigster Repräsentant des deutschen Judentums im 20. Jahrhundert) oder Samson Raphael Hirsch (führender Vertreter der deutschen Orthodoxie im 19. Jahrhundert).
Selbstverständlich muss der Umstand, dass nun in Israel wieder ein freier jüdischer Staat existiert, in das Gesamtbild einfließen. Daraus aber den Schluss zu ziehen, dass mit sofortiger Wirkung und auf wunderbare Weise die geballte Weisheit des Judentums sich nach dort – und nur nach dort – verlagert hat, ist aberwitzig und augenscheinlich unwahr.
So ist es in der Politik und desto mehr im unübersichtlichen Meer der Religionen und des Glaubens. Aus den Anfängen der Verwirklichung der zionistischen Hoffnung das verbriefte Recht eines willkürlich eingesetzten Oberrabbinats Israels als die universell oberste religiöse Entscheidungsmacht des Judentums abzuleiten, hat keinerlei Fundament in jüdischer Lehre, Tradition und Erfahrung. Wir sind bisher über Jahrtausende gut ohne solche hierarchischen Strukturen gefahren. Belassen wir es dabei.
Rabbiner Henry G. Brandt ist Vorsitzender der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK), Rabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Schwaben-Augsburg und der Gemeinde Bielefeld.