Prüfung

Böser Vater, schlechter Gatte?

Rembrandt van Rijn: »Der Engel verhindert die Opferung Isaaks« (1635), Öl auf Leinwand, Eremitage Sankt Petersburg Foto: dpa

Die Parascha Wajera ist Teil der Familienchronik, die von den ersten drei Generationen der jüdischen Geschichte berichtet: von den Erzeltern Awraham und Sara, Jitzchak und Rebekka, Jakow, Lea und Rachel.

Der rote Faden, der die verwirrende Fülle von Wanderungen, Heiraten, Familienzwisten und Unternehmensgründungen dieser drei Generationen zusammenhält, ist die stets bedrohte Linie des männlichen Stammhalters und Erben. Erst in der vierten Generation, bei den Kindern Jakows, mit Lea und Rachel, hängt die Fortsetzung der Linie Awrahams und Saras nicht mehr an einem einzigen Stammhalter, sondern ist durch zwölf Söhne gesichert.

Verraten Eine der weniger bekannten Episoden dieser Familiengeschichte lesen wir im 1. Buch Moses 20: Nachdem Sodom und Gomorra zerstört sind, zieht Awraham mit seiner Familie weiter in den Süden und kommt in das Gebiet von Awimelech, dem König von Gerar, im nördlichen Negev. Wie schon früher einmal auf der Flucht vor einer Hungersnot, die sie nach Ägypten geführt hatte, gibt Awraham auch jetzt seine Frau Sara als Schwester aus. König Awimelech lässt sie daraufhin zu sich bringen und gliedert sie in seinen Harem ein.

In der Nacht erscheint Gott Awimelech im Traum und kündigt ihm seinen Tod wegen Sara an. Der König verteidigt sich: Es sei doch nichts passiert, die beiden hätten behauptet, Geschwister zu sein. Nachdem Awimelech Sara an Awraham zurückgegeben und ihn nicht nur mit Geschenken bedacht, sondern ihm auch Wohnrecht in seinem ganzen Land gegeben hat, betet Awraham für Awimelech. Hierauf beendet Gott die Unfruchtbarkeit Awimelechs und die seines Volkes.

So einfach und in sich abgeschlossen diese Geschichte erscheint, so vielfältig ist sie doch durch gemeinsame Motive mit den anderen Abschnitten dieser Familiengeschichte verbunden. Natürlich finden wir das dominante Thema: die Gefährdung von Awrahams Stammlinie. Wäre Sara in Awimelechs Harem geblieben, hätte die Geschichte des jüdischen Volkes gar nicht erst begonnen.

Ein weiteres Motiv ist Awrahams merkwürdige Rücksichtslosigkeit gegenüber seinen Frauen und Kindern, deren Verlust oder Tod er immer wieder riskiert. Er gibt nicht nur Sara als seine Schwester aus, sondern treibt auch seine Nebenfrau Hagar und den gemeinsamen Sohn Jischmael in die Wüste, wo sie zu verdursten drohen. Schließlich ist Awraham bereit, seinen Sohn Jitzchak als Opfer zu töten. Eine besondere Nähe ist auch zu dem direkt davor liegenden Kapitel zu sehen, der Zerstörung von Sodom und Gomorra. Auch hier besteht die Bereitschaft, weibliche Familienmitglieder zu opfern, um Männer, Familienmitglieder oder Gäste zu retten.

Verdursten Je mehr diese Geschichte von Awraham, Sara und Awimelech sich aber als integraler Teil dieser Familiengeschichte erweist, desto drängender werden unsere heutigen Fragen: Wie kann man Awrahams Verhalten gegenüber seinen Frauen und Söhnen verteidigen, die er verleugnet, zum Verdursten in die Wüste schickt und sogar zu töten bereit ist? Natürlich ließen sich moderne Antworten auf diese Fragen finden. So könnte man sagen, dass sich hier historisch vergangene Welten spiegeln, die nicht unserer Gegenwart entsprechen. Man könnte sagen, dass uns die Tora gerade in diesen ersten Texten der jüdischen Geschichte Menschen vorführt, die genauso schwach und fehlerbeladen sind wie wir auch. Wenn wir uns allerdings die jüdische Überlieferung der antiken Midraschim und der mittelalterlichen Parschanut anschauen, so wird deutlich, dass nicht erst wir heute uns bestimmte Fragen stellen.

Die Antworten der antiken Midraschim enttäuschen uns allerdings eher. Sie verteidigen Awrahams Verhalten. Er habe Grund zu seiner Angst gehabt, so sei die Verleugnung Saras gerechtfertigt gewesen. Aus dem Mittelalter hören wir aber Stimmen wie die von Nachmanides, der deutlich einfordert, dass Männer ihre Frauen und Töchter verteidigen müssen.

Eine andere Richtung nimmt eine Auslegung im Talmud. Anknüpfend an Awrahams Gebet für Awimelech wird gelehrt, dass eine bloße Entschädigung für erlittenen Schaden nicht ausreicht, sondern auch eine Versöhnung der Parteien nötig ist. Hier ist es nun kein Zufall, dass uns als nächstes von Saras Schwangerschaft und der Geburt Jitzchaks berichtet wird. Nach der Tradition hat Awrahams Eintreten für Awimelech nicht nur diesem und seinem Volk die Fruchtbarkeit zurückgegeben, sondern auch Gott erst davon überzeugt, Saras Unfruchtbarkeit aufzuheben.

Hier schließlich sind wir bei der Rolle angelangt, die Gott in dieser Familienchronik spielt. Er ist derjenige, der die Geschichte mit seinem Ruf an Awraham, seine Familie und seine Heimat zu verlassen, überhaupt erst begonnen und mit den Versprechen an Awraham – seine Nachkommenschaft werde zu einem großen Volk, sie würde das Land Israel besitzen und ein Segen für alle Völker sein – weit in die Zukunft hinein bedeutsam gemacht hat.

Konfrontation Gegenüber Gott und seinen manchmal harsch erscheinenden Urteilen macht Awraham eine gute Figur. Er konfrontiert Gott mit den Folgen seiner Gerechtigkeit, der »Midat Hadin«, wenn er ihn fragt: »Willst Du die Gerechten mit den Ungerechten vernichten?« Auch Awimelech stellt Gottes Gerechtigkeit infrage und profitiert von Awrahams Bitte.

Wenn wir Gottes Rolle in diesen Geschichten verstehen wollen, müssen wir vor allem darauf achten, was letztendlich passiert. Gott sorgt nicht nur für den Stammhalter, indem er Sara trotz ihres Alters schwanger werden lässt, nachdem er sie zweimal aus dem Harem eines Herrschers befreit hat. Gott rettet ebenso die Töchter Lots vor den Männern Sodoms. Auch die Frauen und Kinder Awrahams rettet Gott. So wie er Hagar und Jischmael nicht in der Wüste verdursten lässt, so hindert er auch Awraham daran, seinen Sohn Jitzchak zu töten.

Die Antwort des Midraschs auf die Frage, warum Gott gerade Awraham so schwere Prüfungen auferlegte, entspricht dieser in allem Chaos doch rettenden und heilenden Tätigkeit Gottes. Denn Gott prüfe die, die stark genug sind, die Prüfung zu bestehen.

Die Autorin ist Rabbinerin der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.

Inhalt
Der Wochenabschnitt Wajera erzählt davon, wie Awraham von drei göttlichen Boten Besuch bekommt. Sie teilen ihm mit, dass Sara einen Sohn zur Welt bringen wird. Awraham versucht, den Ewigen von seinem Plan abzubringen, die Städte Sodom und Gomorra zu zerstören. Lot und seine beiden Töchter entgehen der Zerstörung, seine Frau jedoch erstarrt zu einer Salzsäule. Später zeugt der betrunkene Lot mit seinen Töchtern Kinder. Awimelech, der König zu Gerar, nimmt Sara zur Frau, nachdem Awraham behauptet hat, sie sei seine Schwester. Dem alten Ehepaar Awraham und Sara wird ein Sohn geboren: Jitzchak. Hagar und ihr Sohn Jischmael werden fortgeschickt. Am Ende der Parascha prüft der Ewige Awraham: Er befiehlt ihm, Jitzchak zu opfern.
1. Buch Moses 18,1 – 22,24

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