Tu Bischwat

Blühendes Leben

Das Neujahrsfest der Bäume führt uns vor Augen, dass wir unser Potenzial verwirklichen sollen

von Naphtali Hoff  22.01.2013 10:06 Uhr

Das Leben ist ein kontinuierlicher Zyklus, der sich in Richtung Wachstum bewegt. Foto: Thinkstock

Das Neujahrsfest der Bäume führt uns vor Augen, dass wir unser Potenzial verwirklichen sollen

von Naphtali Hoff  22.01.2013 10:06 Uhr

Wenn von Tu Bischwat (15. Schwat), dem Neujahrsfest der Bäume, die Rede ist, denken wir an frohe Lieder, Baumpflanzungszeremonien und das Verspeisen von Früchten. Ein Tag, auf den wir uns alle freuen.

Aber was genau ist der Status von Tu Bischwat im Sinne des Gesetzes? Es ist kein Feiertag, da weder die Tora noch der Talmud vorschreibt, diesen Tag zu feiern und einzuhalten. Für ihn sind keine Gebote aufgezeichnet. Es gibt auch keine speziellen Gebete für den Gottesdienst an diesem Tag. Das Einzige, was sich zu Tu Bischwat findet, bezieht sich auf Dinge, die wir nicht tun sollen. Dazu gehört das Verbot, bestimmte Bittgebete aufzusagen, Trauerreden zu halten und das Verbot des Fastens – alle drei Verbote haben damit zu tun, dass dieser Tag ein Tag der Freude ist. Also wenn Tu Bischwat kein Feiertag ist, was ist er dann?

Wenn man die Tora heranzieht, scheint es, als erstrecke sich die Bedeutung von Tu Bischwat einzig und allein auf den Bereich der Landwirtschaft. »Wenn ihr in das Land kommt und allerlei Bäume pflanzt, davon man isst, sollt ihr mit seinen Früchten tun wie mit einer Vorhaut. Drei Jahre sollt ihr sie unbeschnitten achten, dass ihr sie nicht esset; im vierten Jahr aber sollen alle ihre Früchte heilig sein, ein Preisopfer dem Herrn; im fünften Jahr aber sollt ihr die Früchte essen und sie einsammeln; denn ich bin der Herr, euer Gott« (3. Buch Mose 19, 23–25).

gebote Diese drei Verse bilden die Grundlage zweier Gebote. Das erste ist dasjenige von Orla, wörtlich »blockierte« oder »unbeschnittene« Früchte. Wir dürfen keinen Nutzen aus den Früchten ziehen, die im Land Israel während der ersten drei Jahre des Wachstums eines Baumes reifen (oder die ersten drei Jahre, nachdem der Baum wieder eingepflanzt ist). Das zweite Gebot ist das von neta reva’i. Alle Früchte aus dem vierten Jahr eines Baumes dürfen gegessen werden, allerdings nur von ihrem Besitzer in Jerusalem (es sei denn, sie wurden eingelöst, 3. Buch Mose 27,34). Ab dem fünften Jahr und danach dürfen die Früchte gänzlich nach dem Ermessen ihres Besitzers gegessen werden, wann und wo er möchte.

Was ist die Begründung, die hinter dem Gebot von neta reva’i steckt? Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) kommentiert so: Wenn ein Mensch in Jerusalem sitzt und die Früchte seiner Arbeit verzehrt, lernt er, die echte Synthese zwischen geistiger Sphäre, die durch Jerusalem und sein Beit HaMikdasch vertreten ist, und seiner körperlichen Realität, symbolisiert durch die Früchte, zu verstehen.

Gott weist uns an, etwas, was eigentlich banal und weltlich (chulin) ist, mit einer spirituellen Dimension (keduscha) zu erfüllen. Das Wort chulin ist eng mit dem Wort challal verbunden, das leer oder tot bedeutet. Dem Wort geht jegliche spirituelle Vitalität ab. Keduscha meint die vollständige Hingabe an einen höheren Zweck (vgl. Hirsch zum 5. Buch Mose 23,18). Wir geben unser Handeln, unseren Besitz und sogar die Lebensmittel, die wir essen, Gott hin. Eben noch war es ein Stück Obst; jetzt ist es etwas, durch das wir Ihm dienen können. Durch Sein Wort wird das Körperliche zu einer Manifestation des Geistigen.

stichtag An Tu Bischwat im vierten Jahr sind die Früchte des Baumes mit dem Status von neta reva’i durchdrungen. Warum ist gerade Tu Bischwat der Stichtag? Unsere Frage erhält noch mehr Gewicht, wenn wir bedenken, dass der Monat Schwat tatsächlich die Mitte des Winters markiert. Wie kommt es, dass wir ein Datum im Herzen des Winters in Zusammenhang mit jenen Geboten bringen, die aufs Engste mit dem Einbringen der Ernte verbunden sind?

Der Talmud (Rosch Haschana 14a) bietet die folgende Erklärung an, warum Beit Schammai (das übereinstimmend mit Beit Hillel argumentiert, dass das Neujahr der Bäume tatsächlich der erste Tag des Schwat ist) an ihrer Ansicht festhalten. Zwar steht (am ersten Tag des Schwat) der größte Teil des Winterzyklus noch bevor, aber da der größte Teil des jährlichen Regens bereits niedergegangen ist (und die Bäume zu blühen beginnen), feiern wir das Neujahr der Bäume am ersten Tag des Schwat.

Wenn wir nach einem Datum als Stichtag zwischen dem einen landwirtschaftlichen Jahr und dem nächsten Ausschau halten, müssen wir uns auf die Zeit konzentrieren, in der die Bäume zu blühen beginnen. Sobald der Baum blüht, gehören seine Früchte ins neue Jahr. Sein Blühen markiert den Beginn eines neuen Wachstumsprozesses. Obwohl immer noch sehr viele Wintertage folgen, können die ersten Anzeichen des Frühlings bereits heute wahrgenommen werden. Diese Ansätze reichen aus, um diesen Tag das Neujahr der Bäume zu nennen.

Wachstum Das Ganze hat auch einen tieferen Sinn. Wenn wir den Jahreszyklus analysieren, stellen wir fest, dass die Jahreszeiten in vielerlei Hinsicht unserem eigenen Leben entsprechen. Begriffe von Wachstum und Entwicklung, von Stagnation und Verfall sind von Bedeutung im Leben der Pflanzen wie im Leben der Menschen. Die Tora selbst streift dieses Thema, wenn sie uns mit Bäumen vergleicht (5. Buch Mose 20,19).

Von allen Jahreszeiten gibt es keinen größeren Unterschied als den zwischen Winter und Frühling. Der Winter bedeutet Stagnation und noch nicht verwirklichtes Potenzial, es ist die Zeit, in der alle Aspekte des Wachstums im Innern der Bäume verborgen sind. Es gibt keine äußerlichen Zeichen der Entwicklung, keinen Ausdruck von Leben. Alles, was wir sehen, ist ein kahler Baumstamm; die Früchte und Blätter des Herbstes sind längst abgefallen.

Der Frühling hingegen symbolisiert aufblühendes Leben. Alles ist voller Erwartung. Bäume, die während der letzten Monate erstarrt waren, lassen neue Zeichen von Leben erkennen. Knospen keimen auf, Blüten beginnen, sich zu öffnen. Die Natur enthüllt wieder ihre wahre Schönheit. »Denn siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist weg und dahin; die Blumen sind hervorgekommen im Lande, der Lenz ist herbeigekommen, und die Turteltaube lässt sich hören in unserm Lande« (Hohelied 2, 11–12).

kontrast Diesen Kontrast gibt es im menschlichen Leben genauso. Manchmal lassen die Umstände uns in unserem eigenen persönlichen »Winter« erstarren, wenn Kämpfe und unüberwindlich scheinende Schwierigkeiten uns die Vitalität, die allem innewohnt, rauben. Dann wieder kommen Zeiten, in denen unser Leben nur aus Freude und Erwartung zu bestehen scheint. Alles deutet auf Wachstum und Entfaltung hin.

Wir müssen uns jedoch klarmachen, dass es zwei verschiedene Methoden gibt, wie ein Mensch mit den Wintersituationen in seinem eigenen Leben umgeht. Der genannte Kontrast zwischen Winter und Frühling trifft nur zu, wenn man den Winter als die Totenglocke des Sommers ansieht. Die Schönheit des Jahreszyklus aber besteht darin, dass man den Winter ebenso gut als den Herold des kommenden Frühlings betrachten kann. Es ist ganz gleichgültig, welchen Herausforderungen ein Mensch sich stellen muss, ihm stehen immer bessere Tage bevor. Er ist nicht eingegrenzt oder erstarrt. Das Leben ist ein kontinuierlicher Zyklus, der sich in Richtung Wachstum bewegt.

Das ist die Botschaft von Tu Bischwat. Mitten im Winter, wenn alles um uns kalt und düster scheint, denke an den Frühling! Iss Obst! Sing fröhliche Lieder! Pflanze neue Bäume! Halte Ausschau nach dem Guten!

botschaft Die Botschaft geht aber noch einen Schritt weiter. Wir sind nicht nur beauftragt, eine optimistische Einstellung zu bewahren, ganz gleich, wie unsere persönliche Situation aussieht; wir müssen uns auch klarmachen, dass gerade diese Umstände das Fundament für späteren Erfolg legen. Auch wenn wir es noch nicht merken, der größte Teil des für das Wachstum erforderlichen »Regens« ist bereits gefallen.

Die Lebensproben und Hürden, die wir überwinden mussten, bilden die Grundlage für unser Vorwärtskommen. Einziger Unterschied ist, dass dieses Fundament noch dem Bereich des Möglichen angehört, verborgen vor der Außenwelt. Es bedarf der Wärme des Frühlings, im Wortsinne und in übertragener Bedeutung für das menschliche Leben, damit diese Möglichkeiten aufblühen und Wirklichkeit werden können (vgl. den Kommentar des Ramban zum 1. Buch Mose 22,1).

Interessanterweise veranschaulicht Choref, das hebräische Wort für Winter, diesen Punkt aufs Treffendste. Rabbiner Hirsch merkt an, dass Choref mit dem Wort charfi verwandt ist. Charfi bedeutet schlafende Lebenskraft. »Wie war ich in den Tagen meines Winters?«, das heißt, der schlafenden Lebenskraft (Hiob 29,4). Der Winter bezieht sich hier auf die Tage der Jugend eines Menschen, eine Zeit, in der seine gewaltigen Begabungen darauf warten aufzublühen. Es ist der »Frühling« eines Menschen, der hilft, seine latenten Begabungen aufblühen zu lassen.

Unsere Diskussion begann mit dem Versuch, die Bedeutung von Tu Bischwat zu verstehen. Wir haben festgestellt, dass der Tag eine wichtige Rolle bei der Feststellung des gesetzlichen Status für Obst und Gemüse spielt, denn an ihm entscheidet sich, in welches Jahr die Früchte gehören. Auch hat sich gezeigt, dass Tu Bischwat einige bedeutende Lektionen für das wirkliche Leben bereithält. Wir feiern diesen Tag und wissen, dass wir den Stürmen des Lebens trotzen werden, ganz gleich, was eine bestimmte »Jahreszeit« für uns in petto hat. Denn Gott, die Quelle allen Segens, steht hinter uns und gibt uns die Mittel, unsere Ziele zu erreichen.

Rabbiner Naphtali Hoff ist Leiter der Torah Day School in Atlanta/USA.

Tu Bischwat
ist der 15. Schwat (in diesem Jahr am Samstag, 26. Januar) und bezeichnet das »Neujahrsfest der Bäume«. Der nichtbiblische Feiertag markiert das Ende der Regenzeit und den Beginn der idealen Pflanzperiode in Israel. Er ist maßgeblich für die Altersbestimmung eines Baumes und gründet auf der Vorschrift, dessen Früchte nicht zu früh zu verzehren. Mit dem Tag verbinden sich unterschiedliche Bräuche, zum Beispiel der Tu-Bischwat-Seder, bei dem man Früchte serviert, die bis zu diesem Fest während des Jahres noch nicht gegessen wurden, vorzugsweise die »Sieben Arten«, unter anderem Trauben, Feigen, Datteln und Granatäpfel.

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