Die Jahre, die ich während meines Studiums in Mea Schearim in Jerusalem verbrachte, sind für mich mit glücklichen Erinnerungen verbunden. Entfernt von den Hauptstraßen der Innenstadt, erstreckte sich das malerische Viertel mit seinen osmanischen, von ultraorthodoxen Juden bevölkerten Innenhöfen über einen Hügel und hinunter in ein Tal, das die Grenze zwischen dem jüdischen und dem arabischen Jerusalem bildete.
Besonders an die Zeit des Laubhüttenfestes denke ich gern zurück. Nicht nur, weil jeder Balkon und jedes freie Fleckchen mit Sukkot in allen erdenklichen Größen, Formen und aus allen möglichen Materialien vollgestellt sind. Und nicht nur, dass auf den Märkten und Straßen Tische stehen, beladen mit Etrogim und Lulavim. Sondern auch wegen der wochenlangen Feier von Simchat Beit Haschoewa, die an die Prozessionen im Tempel erinnert.
Mythos Das Tanzen und die fantastische Musik, die man dort jede Nacht hören kann, sind der beste Beleg dafür, dass das Bild von Mea Schearim als ein freudloses schwarzes Loch des Fanatismus weit von der Realität entfernt ist. So wie der Mythos, dass jeder Einzelne dort Neturei Karta, die den Zionismus ablehnen, angehört und sich weigert, Steuern zu bezahlen oder Militärdienst zu leisten.
Die Wahrheit ist, dass ich dort die spirituellsten, sensibelsten und mitfühlendsten Menschen kennenlernte, wie es sie nur irgendwo geben kann – und auch die tolerantesten. Doch genauso richtig ist es, dass es dort wie in jeder Gemeinde Verrückte, Flegel und Verbrecher gibt. Auch während meines Aufenthalts kam es zu Zusammenrottungen übereifriger junger Männer, deren hormoneller Aufruhr kein anderes Ventil fand, als wild gegen alles zu demonstrieren, was sie anstößig fanden, von Schwimmbädern bis zum Fahren am Schabbat.
Fairerweise muss man sagen, dass es auf der anderen Seite, unter jungen Säkularen, eine Art sportliche Betätigung war, die Religiösen zu provozieren in der Hoffnung auf eine Schlägerei. Doch damals wurden die Aggressionen von allen religiöse Autoritäten ohne Ausnahme öffentlich aufs Schärfste verurteilt, was die Gewalt zwar nicht völlig beendete, aber immerhin in überschaubaren Grenzen hielt.
Sie hießen zu der Zeit nicht Charedi. Die feine Unterscheidung zwischen wahrhaft heiligen Männern und Frauen, die vor Gott »zittern« (Charedi kommt von zittern), und den bärtigen, schwarz gekleideten Hooligans, die sich als ultraorthodox ausgeben und jedem, über den sie irgendwie Macht erlangen, sei es Mann, Frau oder Kind, Angst und Schrecken einjagen, gehört der heutigen Zeit an.
Medien Berichte Vor einigen Wochen regte ich mich furchtbar auf, als ich im Fernsehen einen BBC-Bericht über ultraorthodoxe Männer sah, die religiöse Mädchen attackierten, nur weil die Kleider nicht bis zum Boden reichten oder die Ärmel am Ellbogen statt am Handgelenk endeten. Sie warfen Steine und Fäkalien auf die Mädchen, die auf dem Weg zur Schule waren.
Ich bin mir sehr wohl im Klaren darüber, dass die Medien tagtäglich Storys finden müssen und dass sie besonders gern Geschichten über jüdischen Fanatismus ausgraben, um Dinge gleichzusetzen und sagen zu können: »Schaut her, die Juden sind genauso schlimm wie die anderen.« Nichtsdestoweniger war ich überzeugt, dass das, was diese Schläger wirklich brauchten, solide militärische Disziplin ist. Und ich glaubte, es würde der religiösen Welt ausgesprochen guttun, wenn ihre nicht arbeitenden und undisziplinierten jungen Fanatiker harter körperlicher Arbeit unterworfen würden.
Aber dann wurde mir klar, dass die Armee auch kein Heilmittel ist. Unter den Fanatikern der Nationalreligiösen Partei gibt es eine Art Bewegung, die »Tag Mechir« (wörtlich »Preiszettel«) heißt. Sie scheint sich aus Mitgliedern einer religiösen zionistischen Siedlerjugend zusammenzusetzen, die einfach jedes arabische Ziel, das zur Hand ist, angreifen, beschmieren, aufschlitzen oder verbrennen, jedes Mal, wenn den Israelis etwas Schlimmes passiert, egal ob Palästinenser dahinterstecken oder ob es die israelische Armee selbst ist, die eine illegale Siedlung niederreißt.
Diskurs Der Wunsch, das Gesetz in die eigene Hand zu nehmen, ist eine sich ausbreitende Krankheit, die die Herrschaft des Gesetzes, der Moral und Religion untergräbt. Die Dinge verändern sich zusehends zum Schlimmeren, egal, wo man hinsieht. Ich fürchte um die Kultur des Diskurses in der israelischen Gesellschaft. Ich befürchte, dass die Aggression und die Gewalt, die sich gegen den Feind draußen richtet, jetzt nach innen gelenkt wirkt. Und wieder sehe ich die Schuld bei der Führung, weil sie nicht genügend dagegen unternimmt.
Sicherlich ist es auch ein Zeichen der Zeit. Die Auseinandersetzungen, die sich derzeit in der Amish-Gemeinde in den USA abspielen, sind weniger gewalttätig, aber sie ähneln den Rivalitäten zwischen chassidischen Höfen. In beiden Fällen werden den Gegnern die Bärte abgeschnitten, Frauen gedemütigt, Eigentum zerstört und ihnen wird in der Öffentlichkeit der Hut vom Kopf gerissen. Ich nehme Anteil am Schicksal der Kopten in Ägypten. Weil es keine Juden mehr gibt, müssen sie die Rolle des neuen Sündenbocks übernehmen.
Die mörderische politische Rivalität und der religiöse Kampf gegen Häresie, der zwischen Schiiten und Sunniten tobt, und nicht zuletzt die Kampagnen gegen die Roma in Europa sind alle Teil einer ähnlichen fundamentalistisch-primitiven Art des Denkens und Handelns, die keinen Respekt vor Unterschieden hat und alle Arten von Extremismus trägt.
Entfremdung Wir müssen unser eigenes Haus in Ordnung bringen und keinen schalen Trost aus der Tatsache ziehen, dass andere noch schlimmer oder mörderischer sind als wir. In der Welt des religiösen Judentums herrscht die falsche Annahme, jeder Schwarzgekleidet sei heilig. Alle nach außen hin Frommen werden erst einmal mit einem Vertrauensvorschuss bedacht, denn sie sind es, die die Tradition aufrechterhalten.
In der Wirklichkeit aber zerstören diejenigen, deren Frömmigkeit rein äußerlich ist, die Tradition, indem sie Entfremdung verursachen. Sie repräsentieren eine moralisch korrupte Mutation der Religion. Wenn wir uns wirklich Sorgen um unsere Religion machen, müssen wir Druck auf unsere religiösen Führer ausüben, damit sie fanatischem, extremem Verhalten Einhalt gebieten, statt es aus politischen Gründen auch noch zu fördern. Und wir sollten ihnen unsere Unterstützung entziehen, wenn sie es nicht tun, denn eine echte Führung übernimmt Verantwortung.
Der Autor ist Dozent und Rabbiner in New York und hat mehrere Bücher zum Judentum veröffentlicht.