Einmal im Jahr gehe ich am Schabbat nicht in die Synagoge. Und zwar in den Sommerferien. Dieses Jahr war ich in den Schweizer Bergen. Der Ort heißt Lenk und ist bekannt für seine dicken Kühe und prächtigen Bauernhäuser. In der mittelgroßen Ferienanlage trifft man auf Familien aus der ganzen Schweiz, aber auch aus Deutschland und Holland.
Bergflanken Am Freitag bereitete ich mich auf den Schabbat vor. Normalerweise gehe ich am Abend in die Synagoge und schlafe bei Lecha Dodi ein. Hier in den Bergen war alles etwas anders. Ich stand in der Wohnung und betete Richtung Fernseher. Dahinter konnte ich einen wunderschönen Sonnenuntergang betrachten. Das Licht färbte die hohen Bergflanken karmesinrot. Ich fühlte mich als Teil der Schöpfung, und es wurde ganz heiß in mir. Neben dem Fernseher hing ein sehr hübsches Aktbild.
Am nächsten Morgen betete ich wieder. Ich las für mich aus der Tora und war eine Stunde früher fertig als sämtliche Synagogen in Zürich. Fröhlich schlenderte ich aus dem Haus und setzte mich in den Gemeinschaftsraum. Ich pflügte mich durch alle vorhandenen Zeitungen und war glücklich. So glücklich, dass ich hätte grunzen können. Warum ich so happy war, weiß ich nicht. Sicher hat diese Mischung aus Schabbat und Bergluft zu meiner gelösten Stimmung beigetragen.
Im großen Gemeinschaftsraum befanden sich noch andere Menschen. Am Kaffeeautomaten kauften sie Latte macchiato und schlürften ihn zufrieden. Da Schabbat war, konnte ich leider nur Wasser trinken. Irgendwann bemerkte ich den Mann neben mir. Er trug ein gelbes T-Shirt, darauf stand: www.jesus.ch. Er registrierte meinen Blick und begann, mich anzulächeln, als würden wir beide in der Sauna nebeneinander sitzen. »Grüezi«, sagte ich. »Schalom«, entgegnete er mir selig. Ja, du mich auch, dachte ich und versenkte meinen Kopf in die Zeitung.
Jesus.ch stierte mich indes weiter an. Er räusperte sich. Mist, was will er nur von mir? Er heiße übrigens Thomas! Thomas streckte mir seine Hand entgegen. Ob er mich etwas ganz Intimes fragen darf, wollte Thomas wissen. Ich seufzte. »Sie sind ein Hebräer?« Ja, ich glaube, so kann man das auch sagen. »Wissen Sie, ich war schon zehnmal im Heiligen Land. Dreimal in Bethlehem und fünfmal in Jerusalem. Ani medaber kezat Iwrit – ich spreche ein bisschen Hebräisch!« Ich antwortete: »Mmh.« Und dann schaute ich das erste Mal auf die Uhr. Ich war in einem kleinen Dilemma. Wenn ich bereits jetzt in die Wohnung zurückkehre, muss ich meiner Frau beim Kochen helfen oder die Kinder beaufsichtigen. Wenn ich allerdings hier unten sitzen bleibe, wird mich Thomas nicht loslassen und eine Dia-Show ohne Bilder von seinen Erlebnissen vortragen.
Mitleid Ich guckte ihn nochmals an und hatte plötzlich Mitleid mit dem Jesus-Werbebanner. Thomas schwitzte leicht. So heftig hat es ihn durchgerüttelt, hier oben auf einen Juden beziehungsweise Hebräer zu treffen. Stolz zog er eine kleine Taschenbibel aus seiner Hosentasche. »Lese ich jeden Tag«, sagte er. Dann zückte er sein Portemonnaie und legte eine israelische Münze, ein kabbalistisches Gebet und einen gelben Stein auf den Tisch. »Den habe ich von der Klagemauer gelöst. Er schützt mich vor allen Gefahren!«
Thomas redete und redete. Irgendwann kamen auch seine drei Kinder zu uns an den Tisch: Rebbeka, Isaak und Nehemias. »Kinder, dieser Mann ist Hebräer! Was sagt man in solchen Situationen?« – »Schalom!«, schrien die Kinder. Die anderen Menschen schauten zu uns herüber.
Ich sah auf die Uhr und war unendlich froh, meinen neuen Freunden Schalom zu sagen. Nächstes Jahr, schwor ich mir, werde ich in der Feriensiedlung keine Kippa mehr tragen.