Chaje Sara

Blick nach vorn

Nur wer nach vorn schaut, kann im Leben weiterkommen. Denn jeder Mensch soll danach streben, sein Ziel zu erreichen. Foto: Getty Images

Awraham war bereits 137 Jahre alt, als ihm zwei einschneidende Erlebnisse widerfuhren. Lange schon hatte ihm der Ewige Nachkommen verheißen. Jahre vergingen, doch nichts passierte. Sara wurde nicht schwanger. Am Ende erfüllte sich aber Gottes Verheißung, und Jizchak wurde geboren.

Als das Kind herangewachsen war, forderte Gott von Awraham, seinen Sohn als Opfer darzubringen.

Awraham widersprach Gott nicht. Auch trauerte und weinte er nicht. Es heißt schlicht und ergreifend, dass er früh am Morgen aufstand und sich mit dem Esel, zwei Knechten und Jizchak auf den Weg machte. Im letzten Moment kam Gottes Ruf, das Kind doch nicht zu töten.

Vor dem Hintergrund dieser Ereignisse und dem Bericht über Saras Tod fragt man sich: Wie haben Vater und Sohn diese traumatischen Erlebnisse verarbeitet?

verheissung Sieben Mal wurde Awraham das Land Kanaan versprochen. Als Sara gestorben war, fand er nicht einmal eine Grabstelle für sie. Jizchak hatte mit 37 Jahren noch keine Frau. Wieder stand Awraham vor der Frage, ob er Gottes Verheißungen trauen konnte.

Versank Awraham in Zweifel und Trauer? Die Tora berichtet nichts davon. Vielmehr beschreibt sie Awrahams Verhalten ganz elegant mit nur fünf Worten: »Und Awraham kam, seine Frau zu beweinen und zu betrauern« (1. Buch Mose 23,2). Anschließend heißt es: »Danach stand er auf von seiner Toten und redete mit den Hethitern« (1. Buch Mose 23,3).

Wenn sich ein traumatisierter Mensch zu sehr mit seiner Vergangenheit beschäftigt, »friert« er ein, erstarrt in seinem Erlebten.

Alles weist darauf hin, dass Awraham sein Leben in die Hand nimmt und seine Ziele verfolgt. Deshalb sucht er zunächst für Saras Bestattung ein Stück Land, das ihm schon einmal als Anzahlung für das gesamte verheißene Land gelten kann. Und er bemüht sich, für Jizchak eine Frau zu finden, damit die Verheißung für seine Nachkommen in Erfüllung geht.

Was gab Awraham die Kraft, sein Leben tatkräftig und zielstrebig weiterzuführen? Rabbiner Jonathan Sacks schreibt, dass sein Lehrer, der die Schoa überlebt hatte, ebenfalls sein Leben meisterte, trotz der schrecklichen Erlebnisse. Und Niall Ferguson schreibt in seiner Henry-Kissinger-Biografie, wie sich dessen Leben schlagartig änderte, nachdem er als amerikanischer Soldat ein Konzentrationslager betreten hatte. Wenn ihn schon nur dieser Anblick traumatisiert hat, was fühlen dann erst diejenigen, die als Gefangene über lange Zeit in einem KZ gelebt und gelitten haben?

Als Rabbiner habe ich es bei polnischen Juden erlebt, die nach Auschwitz in deutschen Gemeinden Fuß gefasst hatten: Trotz ihrer traumatischen Erlebnisse brachten sie die Kraft zur Gestaltung ihres Lebens auf. Diese Menschen sprachen nicht über die Vergangenheit, auch nicht mit ihren Partnern und Kindern.

Bewältigung In der Tora lesen wir von zwei Persönlichkeiten, die ebenfalls mit der Bewältigung ihrer Vergangenheit zu tun haben. Da ist zunächst Noach, ein Zaddik, der am Ende zum Alkoholiker wurde. Als er die Arche verließ, musste er feststellen, dass er die ihm bisher vertraute Welt verloren hatte. Die Menschheit seiner Zeit war in den Wasserfluten untergegangen. Vielleicht sah er die Vergangenheit in seinen Erinnerungen wie einen Film an sich vorüberziehen. Dabei mag er als Zaddik kapituliert haben, weil er sich Vorwürfe machte, außer seiner Familie nicht noch weitere Menschen gerettet zu haben.

Und denken wir an Lots Frau, sie blickte zurück, als Sodom und Gomorrha zerstört wurden, obwohl die Engel Gottes sie vorher gewarnt hatten. Sie wurde dafür bestraft und erstarrte zu einer Salzsäule.

Angesichts der Lebensläufe von Noach und Lots Frau können wir besser nachvollziehen, dass sich Awraham nach Saras Tod zunächst der Zukunft widmet.

Vielleicht ist das ein treffendes Bild der Tora, um zu illustrieren: Wenn sich ein traumatisierter Mensch zu sehr mit seiner Vergangenheit beschäftigt, »friert« er ein, erstarrt in seinem Erlebten.

Angesichts der Lebensläufe von Noach und Lots Frau können wir besser nachvollziehen, dass sich Awraham nach Saras Tod zunächst der Zukunft widmete und er erst später anfing, über das Vergangene zu trauern. In der Tat, es geht darum, zuerst die Zukunft zu bauen, sich ein Ziel zu setzen, es anzusteuern und später zu trauern. Kehrt man diese Reihenfolge um, wird man zum Gefangenen seiner Vergangenheit.

Der österreichische Neurologe und Psychiater Viktor Frankl (1905–1997), der 1945 in Auschwitz befreit wurde, unterschied sich im Ansatz seiner Therapie bei der Vergangenheitsbewältigung von Sigmund Freud (1856–1939). Dieser forderte seine Patienten auf, in ihre Vergangenheit abzutauchen. Frankl hingegen ermunterte seine Patienten, zuerst ihre Zukunft zu bauen. Seine Devise war: »Die Zukunft hören, wenn sie ruft!« Und so lebte auch Frankl nach traumatischen Jahren noch ein erfülltes und langes Leben und starb erst im hohen Alter von 92 Jahren.

Ruf Awraham hörte den Ruf der Zukunft. Sara war zwar gestorben und Jizchak noch ledig. Aber der Erzvater klagte den Ewigen nicht an. Er hörte die leise Stimme Gottes, die ihm sagte: »Der nächste Schritt hängt von dir ab.« Baue eine Zukunft, und ich werde auch auf diese Zukunft meinen Geist ausbreiten.

Der Ewige will, dass wir in Seiner Welt wohnen und wirken.

Nach vorn zu schauen, ist der richtige Weg, um weiterzukommen. Gott tritt in unser Leben und bittet uns darum, eine Reise in die Zukunft anzutreten. Wir sind nicht durch Zufall in dieser Welt. Der Ewige will, dass wir in Seiner Welt wohnen und wirken. Und so soll jeder Mensch danach streben, sein Ziel zu erreichen.

Manchmal erkennen wir es nicht, noch nicht. Manchmal können wir es erst im Rückblick erkennen, wenn wir viele Fehler gemacht haben. Doch wer Fehler macht, kann immer noch dazu lernen. Auf jeden, der in dieser Welt existiert, wartet eine Zukunft. Wir haben den Auftrag und die Aufgabe, sie selbst hervorzurufen und zu produzieren.

Damit ist ein wesentlicher Bestandteil des jüdischen Glaubens beschrieben. Und genauso stellt sich die Denk- und Handlungsweise Awrahams in unserem Abschnitt Chaje Sara dar: Gestalte zuerst die Zukunft, und danach kannst du trauern!

Der Autor ist Rabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Bamberg und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).

inhalt
Der Wochenabschnitt Chaje Sara beginnt mit Saras Tod und dem Kauf der Grabstätte »Mearat Hamachpela« durch Awraham. Dieser Kauf wird sehr ausführlich geschildert. Später beauftragt Awraham den Knecht Eliezer, für seinen Sohn eine passende Frau zu suchen. Er findet in Riwka die richtige Partnerin für Jizchak. Auch Awraham bleibt nicht allein: Er heiratet eine Frau namens Ketura. Schließlich stirbt er und wird in der Höhle begraben, in der auch Sara beigesetzt ist.
1. Buch Mose 23,1 – 25,18

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