Unter dem massiven Raketenbeschuss der Hamas aus dem Gazastreifen vergangenen Monat entstand in einer landesweiten WhatsApp-Gruppe israelischer Rabbiner eine faszinierende Diskussion. Wieder gab es eine auffällig hohe Zahl an Vorfällen, bei denen unter erstaunlichen Konstellationen die Bewohner Israels einem Raketeneinschlag entgingen und die Zahl der Opfer auf israelischer Seite wesentlich höher hätte sein können.
»Offene Wunder! Darüber muss zu jeder sich bietenden Gelegenheit gesprochen werden, denn darin zeigt sich die schützende Hand G’ttes«, ergriffen die einen in der Gruppe das Wort.
Dem entgegneten jedoch andere: »Ist es nicht ein viel größeres Wunder, dass Israel über ein so ausgeklügeltes System – einem technischen Wunder gleich – wie ›Iron Dome‹ verfügt, das imstande ist, 90 Prozent der Einschläge von vornherein zu verhindern, und jedem Beobachter eine Mischung größter Verwunderung und Bewunderung abringt?«
NATUR Die Grenze zwischen Wunder und Natur ist manchmal sehr fließend. Natürliche Vorgänge muten zuweilen recht wundersam an, und wunderbehaftete Ereignisse werden als natürlich angesehen oder abgetan. Auch in folgender Begebenheit unseres Wochenabschnitts scheinen klar zu unterscheidende Linien übertreten zu werden:
»Und das Volk war ungeduldig auf dem Weg. Und das Volk redete gegen G’tt und gegen Mosche. (…) Da sandte der Ewige die giftigen Schlangen gegen das Volk, die das Volk bissen, und es starben viele (…), und Mosche betete für das Volk. So sprach der Ewige zu Mosche: ›Mach dir eine Schlange und setze sie auf eine Stange, und wer gebissen wird, der sehe sie an und bleibe am Leben.‹ Und Mosche machte eine kupferne Schlange und setzte sie auf eine Stange, und es geschah, wenn eine Schlange jemanden gebissen hatte, und er schaute auf zur kupfernen Schlange, so blieb er am Leben« (4. Buch Mose 21, 4–9).
Das von G’tt befohlene Gegenmittel gegen die tödlichen Schlangenbisse hat seinen Ursprung nicht in Naturgesetzen und entspricht nicht gewöhnlichen Heilmethoden – es handelt sich also um ein Wunder.
Darüber hinaus lässt es jedoch sehr verwundern: Man schaue eine kupferne Schlange hoch oben auf der Stange an, und schon ist man geheilt. Erinnert diese Heilmethode nicht an Götzenkult? Inwiefern spiegelt sich darin das zweite der Zehn Gebote wider, sich kein Bildnis zu machen und keines anzubeten?
KRÄFTE Auf diese komplexe Frage geht die Mischna ein – um genau dieses Missverständnis auszuräumen: »Kann denn die Schlange sterben lassen, oder kann die Schlange beleben? (Nein, sie kann es selbstverständlich nicht.) Aber sobald die Israeliten hinaufschauten und ihre Herzen ihrem Vater im Himmel unterwarfen, wurden sie geheilt, wenn aber nicht, fielen sie« (Rosch Haschana 3,8).
Die Schlange hatte an sich keinen speziellen Stellenwert und schon gar nicht eigene Kräfte. Das Einzige, was zählte, war der Blick nach oben, gen Himmel, der die Gesinnung des Herzens auf G’tt richtete. Allein dies brachte in der Folge die Heilung mit sich, und nicht, wie irrtümlich verstanden werden könnte, der kupferne Gegenstand auf der Stange.
In direkter Parallele und gleicher Weise erklärt dieselbe Mischna das ungewöhnliche Wundermittel, das den Kampf zwischen Israel und Amalek entscheidend beeinflusste: »Und es geschah, als Mosche seine Hand erhob, da war Israel überlegen« (2. Buch Mose 17,11). Sind es denn die Hände Mosches, die den Krieg führen? Nein, wann immer die Israeliten nach oben schauten und ihre Herzen ihrem Vater im Himmel unterwarfen, waren sie überlegen – wenn nicht, fielen sie.
Parallele Die Parallele ist offensichtlich und leuchtet ein – auf den ersten Blick. Auf den zweiten jedoch können klare Unterschiede ausgemacht werden. Die erhobenen Hände Mosches während des Kampfes mit Amalek stehen symbolisch für das Gebet zum Himmel, der Blick auf dieses Modell löst Identifikation aus und verursacht, das eigene Herz im Gebet auf G’tt zu richten und in Ihm Ursprung der Inspiration und des Erfolgs zu erfahren.
Demgegenüber hingegen mutet die Wahl der kupfernen Schlange verwunderlich an. Ginge es bloß um den Blick und den Gedanken des Herzens gen Himmel, wäre doch beispielsweise der Stab Mosches mit dem Namen G’ttes darauf eingeritzt zweckdienlicher gewesen? Die kupferne Schlange aber könnte genau davon ablenken.
Dass dieser Verdacht keineswegs abwegig war, zeigt sich anhand der späteren Geschichte: Nach einigen Jahrhunderten begann das jüdische Volk, der Kupferschlange eigenständige Kräfte zuzuschreiben. Dies führte zu ihrer Verehrung und Anbetung und hatte zur Folge, dass König Chiskija die kupferne Schlange zerrieb und die Weisen ihm zustimmen mussten (Mischna Pessachim 4,9).
Dies war eine ungeheure Tat, zerstörte er damit doch ein originales Artefakt aus den Händen Mosches, an dem sich Wunder vollzogen hatten! Und doch war sie notwendig, um das Volk zu lehren, dass außer G’tt nichts anbetungswürdig ist und auch nichts vermittelnd zwischen Ihm und dem Menschen steht.
Dies verankerte Maimonides, der Rambam (1138–1204), in seinen Glaubensgrundsätzen: »Und der fünfte Grundstein ist, dass G’tt allein es würdig ist, Ihm zu dienen, Ihn zu verherrlichen und seine Größe zu verkünden, und so soll keinem getan werden, der sich unter Ihm befindet (…). Sie (Naturkräfte, Engel etc.) haben keine Herrschaft und keinen Willen außer dem Willen G’ttes. Und man darf sie nicht zu Mitteln machen, um zu Ihm zu gelangen, nur auf Ihn sollen die Gedanken gerichtet sein« (Einleitung zur Mischna 11. Kapitel Sanhedrin).
GEBET Wozu wurde Mosche also beauftragt, ausgerechnet eine verfängliche Schlange auf der Stange anzubringen?
Der Sohar erklärt, dass mit ihr auch die Strafe der Schlangenbisse in Erinnerung gerufen wurde, was wiederum das Gebet zu G’tt hervorrief. Doch leuchtet diese Erklärung nicht ganz ein, da doch die soeben von Schlangen Gebissenen zur Kupferschlange aufschauen sollten. Mussten sie noch einmal an die Strafe erinnert werden?
Nachmanides, der Ramban (1194–1270), sieht die Bedeutung der Kupferschlange anders: Gerade der Umstand, dass es der Blick auf eine Schlange ist, der auf wundersame Weise heilt, wo es doch eigentlich die Schlange war, die durch ihren Biss die Lebensgefahr brachte, macht deutlich, dass die Schlange – sowohl die bestrafende als auch die heilende – in Wirklichkeit nur ein Mittel in der Hand G’ttes ist. »Ich bin es, Der sterben und wieder leben lässt!« (5. Buch Mose 32,39).
Daraus ergibt sich: Genauso wie in Wirklichkeit nicht die Kupferschlange Heilung bringt, sondern von G’tt kommt, geht auch die Lebensgefahr in Wirklichkeit nicht vom Schlangenbiss aus.
So lehrte schon Rabbi Chanina ben Dossa, der sich furchtlos von einer gefährlichen Schlange beißen ließ – was aber nicht ihm, sondern der Schlange den Tod brachte. »Nicht die Schlange tötet, sondern die Sünde!« (Talmud Brachot 33a).
Durch den Blick auf die Kupferschlange sollten sich die Gebissenen also bewusst werden: Nicht die Schlangen töten, genauso wenig, wie sie heilen. Sie sind nur ein Mittel G’ttes. Die Wurzel der Lebensgefahr liegt in Wirklichkeit in der Sünde – im ungeduldigen Murren und den misstrauischen Reden –, und die Heilung für diese entspringt aus der Erkenntnis, dass alles in G’ttes Hand liegt: Strafe und Heilung – völlig egal, ob auf wohlbekannten natürlichen oder übernatürlichen Wegen.
Deshalb ist es an uns, G’tt nicht nur für Seine offenen Wunder, sondern auch für die durch menschliche Hand – Technologie, Wissenschaft und Entwicklung – hervorgebrachten Wunder zu danken und zu preisen: also für jedes von Raketen verfehlte und gerettete Leben. Danke!
Der Autor ist Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Wien.
inhalt
Der Wochenabschnitt Chukkat berichtet von der Asche der Roten Kuh. Sie beseitigt die Unreinheit bei Menschen, die mit Toten in Berührung gekommen sind. In der »Wildnis von Zin« stirbt Mirjam und wird begraben. Im Volk herrscht Unzufriedenheit, man wünscht sich Wasser. Mosche öffnet daraufhin eine Quelle aus einem Stein – aber nicht auf die Art und Weise, wie der Ewige es geboten hat. Mosche und Aharon erfahren, dass sie deshalb das verheißene Land nicht betreten dürfen. Erneut ist das Volk unzufrieden: Es ist des Mannas überdrüssig, und es fehlt wieder an Wasser. Doch nach der Bestrafung bereut das Volk, und es zieht gegen die Amoriter und die Bewohner Baschans in den Krieg und erobert das Land.
4. Buch Mose 19,1 – 22,1