Ein erheblicher Teil des fünften Buches Mose, Sefer Dewarim, enthält die Abschiedsrede unseres Lehrmeisters Mosche Rabbenu. Es war ihm nicht vergönnt, das Land Kanaan zu betreten. Daher ermahnt er vor seinem Tod das Volk, die Treue zu den Grundsätzen der Tora zu bewahren.
Der Wochenabschnitt für diesen Schabbat aus dem siebten Kapitel des fünften Buches Mose wiederholt die wichtigsten Normen des menschlichen Verhaltens, um sie zu vertiefen. An mehreren Stellen dieses Wochenabschnitts warnt die Tora die Israeliten auch vor jeglichem extremen Verhalten gegenüber dem Nächsten. Jeder rücksichtslos-radikalen Einstellung – wer auch immer sie vertritt – fehlt der Geist der Offenbarung.
Die jüdische Geschichte liefert den Beweis dafür, dass radikale Gruppen, die extreme Richtungen vertraten, sich letztendlich vom Judentum getrennt haben. Die Schrift warnt vor radikalen Positionen, indem sie verkündet: »Ihr sollt dem«, wozu euch G’tt verpflichtet, »nichts hinzufügen und auch nichts davon wegnehmen« (5. Buch Mose 4,2).
schriftexegese Es liegt im Wesen und in der Gedankenwelt der jüdischen Schriftexegese, dass unsere Gelehrten gerade aus diesem Vers, der beim einfachen Bibelleser eher eine starre, unbeugsame Haltung vermuten lässt, die Absage an Extremismus und Fanatismus herauslesen. Die Gelehrten waren der Meinung, dass die g’ttlichen Gebote der Tora keine Unterstützung für die Ziele rücksichtsloser Fanatiker liefern. Zugleich jedoch solle sich niemand anmaßen, das Wort G’ttes willkürlich, nach eigenem Gutdünken, zu verbiegen.
Die Bestrebung nach Ausgewogenheit verkündet die Tora nicht nur in den Regeln für den Alltag, sondern weitet sie auch auf das Geistesleben und die Geisteshaltung aus: »Fürchte dich nicht« (7,21) bedeutet, dass der Mensch nicht von einem Gefühl der eigenen Minderwertigkeit oder Wertlosigkeit erfasst werden sollte, wenn es um die mächtigen Probleme und Schwierigkeiten in der Welt geht.
Die Tora will uns damit sagen, dass G’tt demjenigen beisteht, der nach Seinem Weg trachtet. Jedoch soll er sich vor den Gefahren der leichtsinnigen Überheblichkeit hüten.
Von diesen Empfindungen geleitet könnte der Mensch auf den Gedanken kommen: »Ich habe mir diesen Reichtum (und Wohlstand) aus eigener Kraft und mit eigener Hand erworben« (8,17). Aber die Tora warnt: »Gedenke des Herrn, deines G’ttes, denn Er ist es, der dir Kräfte gibt, solch mächtige Taten zu vollbringen« (8,18).
Die Tora mahnt zu Verantwortungsbewusstsein und nüchternem Abwägen des eigenen Verhaltens. In seiner Rede will Mosche das Volk dazu erziehen, auf G’ttes Wort zu hören und Seiner Unterweisung zu folgen: »… und lehrt sie eure Kinder, von ihnen zu reden, wenn du zu Hause bist und unterwegs, wenn du dich niederlegst und wenn du aufstehst, (…) auf dass eure und eurer Kinder Tage sich mehren auf dem Boden, den der Ewige euren Vätern zugeschworen hat« (11, 19–20).
bildung Aufgrund dieser Toraverse war bei den Israeliten bereits im Altertum die Bildung Religionspflicht. Der Talmud schrieb den Vätern vor, den Kindern die Lehre zu vermitteln. Und häufig trugen nicht nur die Väter, sondern auch die Mütter wesentlich zur Unterweisung ihrer Kinder bei.
Auch auf dem Land wurden öffentliche Schulen eingeführt, damit die zahlreichen Waisenkinder, die ihre Eltern durch Krieg und Elend frühzeitig verloren hatten, nicht ohne Kenntnis der Tora aufwuchsen. Die Gelehrten förderten die Bildung der mittellosen Kinder, für die niemand Schulgeld zahlte. An einer Stelle lesen wir im Talmud: »Kümmert euch um die Bildung der Armen, sie bilden die Quellen der Heiligen Schrift.«
Zur Zeit des Zweiten Tempels ordnete der Hohepriester Joshua ben Gamla verbindlich an, dass jede Ortschaft eine Schule errichten muss. Der Priester wollte verhindern, dass die Waisenkinder ohne Torabildung aufwuchsen. Die Weisen des Talmuds sprachen ein scharfes Verbot aus gegen die Diskriminierung der Kinder der Armen und Notleidenden beim Unterricht. Bis in die moderne Zeit gab es in der Diaspora keine jüdische Gemeinde ohne Schule und Melamed (Lehrer). Der österreichische Schriftsteller Joseph Roth setzte in seinem Roman Hiob (1930) dem Dorflehrer Mendel Singer ein unvergessliches Denkmal.
frage Im weiteren Teil seiner Rede stellt Mosche die rhetorische Frage: »Und nun, Israel, was fordert der Ewige, dein G’tt, von dir außer dem einen: dass du Ihn fürchtest, indem du auf allen Seinen Wegen wandelst?« (10,12). Im Zusammenhang mit diesem Wort Mosches weisen unsere Kommentatoren auf einen Vers in Mischle, den Sprüchen Salomos, hin: »G’ttesfurcht ist der Anfang der Erkenntnis und des Wissens« (1,7).
Es scheint, dass man das Wissen und die Wissenschaft des Menschen ohne G’ttesfurcht sehr gering schätzte. Die Vermutung liegt nahe, dass unsere Weisen sogar befürchteten, die Wissenschaft des Menschen könne sich ohne den Glauben an G’tt gegen den Menschen selbst richten. Sie formulierten ihre Angst ziemlich verschlüsselt im Talmud: »Das Wissen des Menschen ohne G’ttesfurcht ähnelt demjenigen, der die Schlüssel zu den Innenräumen eines Schlosses besitzt, ohne jedoch die Außentür öffnen zu können« (Schabbat 31ab ).
Der Autor war von 1981 bis 2002 Landesrabbiner von Württemberg.
Paraschat Ekew
Der Wochenabschnitt zählt die Folgen des Gehorsams der Israeliten auf. Wenn sie sich an die Gesetze halten würden, dann blieben die Völker jenseits des Jordans friedlich, und es würde sich materieller Fortschritt einstellen. Die bisherigen Bewohner müssen das Land verlassen, weil sie Götzen gedient haben – nicht, weil das Volk Israel übermäßig rechtschaffen wäre. Am Ende der Parascha verspricht Mosche, im Land Israel würden Milch und Honig fließen, wenn das Volk die Gebote beachtet und an die Kinder weitergibt.
5. Buch Mose 7,12 – 11,25