Für Deutschland ist der EM-Traum geplatzt, aber die Europameisterschaft ist noch nicht vorbei, und im Finale fiebern Hunderttausende, natürlich auch jüdische Fans, mit. Wenn der Ball rollt, werden sie eins mit dem Spiel, sie vergessen ihre persönlichen Sorgen und tauchen ein in das Erlebnis der Verbundenheit mit ihrer Mannschaft, in eine Verbindung mit etwas Größerem.
Von Rabbiner Avichai Apel, der heute in der Frankfurter Gemeinde amtiert, habe ich dazu etwas Großartiges gelernt. Wie im Fußball, sagte er, sei auch im Judentum jeder Einzelne wichtig, aber zuerst komme die Mannschaft: Ohne den Minjan, also die Mindestanzahl von zehn Männern, kann kein jüdischer Gʼttesdienst abgehalten werden.
Wie auf dem Spielfeld müssen wir die Regeln einhalten (die Mizwot und die Halacha, die Religionsgesetze), den Sportsgeist bewahren (Tora und Emuna achten), auf den Kapitän hören (den Rabbiner oder den Vorbeter) und uns vom Trainer (einem Zaddik) anleiten lassen. Und die begeisterten Fans (die Frauen und Kinder der Gemeinde) unterstützen uns. Nur gemeinsam, als Team, können wir wirklich etwas bewirken.
Der religiösen Praxis näher, als viele denken
Fußball ist also unserer religiösen Praxis näher, als viele denken. Und es überrascht nicht, dass auch in traditionellen Gemeinden viele Fans zu finden sind. Aber ist es auch okay, für den Sieg der Lieblingsmannschaft zu beten, oder ist das nun doch zu trivial?
Zunächst ist klar: Alles, was für uns von großer oder kleiner Bedeutung ist, ist immer ein Gebet wert, denn Gʼtt ist die Adresse für all unsere Sorgen und Wünsche.
Nun gibt es Fans, die das beherzigen und beten; noch im Stadion schauen sie in den Himmel und flehen um den Sieg ihrer Mannschaft. Trotzdem erhalten sie manchmal keine zufriedenstellende Antwort, und auf dem Rasen blamiert sich ihr Team bis auf die Knochen.
G’tt erhört unsere Gebete, aber er erfüllt nicht alle unsere Wünsche.
Das Gefühl, nicht erhört zu werden, tut weh. Doch im Judentum existiert eine goldene Regel: Egal, was du dir wünschst, Gʼtt sagt nie Nein, stattdessen liefert Er eine von drei Antworten. Die erste Antwort lautet: »Ja«, du wünschst dir etwas, und schon hast du’s. Die zweite Antwort: »Später, zu einem anderen Zeitpunkt.« Und die dritte: »Ich habe etwas Besseres für dich.«
Es mag einen treuen Fan schmerzen, aber aus religiöser Sicht hat auch das Ausscheiden der deutschen Mannschaft aus der Europameisterschaft einen guten Grund, den vielleicht nur G’tt kennt. Denn alles, was uns in dieser Welt passiert, dient am Ende zu unserem Besten. G’tt ist kein Flaschengeist. Es wäre ein Fehler, immer nur dann zu beten, wenn man Dinge auf seiner Wunschliste abhaken möchte. Dadurch schwächt man die Kraft des Gebets und verpasst das Wesentliche. »Das Gebet ist das Tor, durch das wir ins Reich Gʼttes treten«, schreibt Rabbi Nachman (Likutey Moharan II, 84). Es ist die wahre Quelle für die Steigerung des Lebensgefühls und der positiven Energie (Likutey Moharan I, 9,1).
Gute Kommunikation bringt Klarheit
Der Zweck des Gebets besteht nicht darin, einen Wunsch erfüllt zu bekommen, sondern die Gelegenheit zu nutzen, Gʼtt zu begegnen und unsere Hoffnungen mit Gʼttes Plänen zu vereinen. Unsere Gebete sind mächtig, weil sie eben Kommunikation mit dem mächtigen Gʼtt bedeuten. Gute Kommunikation führt zu einer echten und lebendigen Beziehung, und das bringt uns Klarheit. Es hilft uns, zu verstehen, was wir wirklich wollen und brauchen.
Das Gebet erweitert unseren Horizont, hilft uns zu reflektieren und das Fußballspiel von oben zu betrachten: Was können wir aus dem Stadion für Inspiration und Motivation mitnehmen, welche Werkzeuge für unser persönliches Leben entdecken? Während eines Spiels finden zum Beispiel ständig wichtige mentale Prozesse statt, wie der Umgang mit Druck und Herausforderungen, der Einsatz von Strategien und Techniken, die Arbeit unter den prüfenden Augen des Publikums, die Erholung von Misserfolgen und die Genesung von Verletzungen.
Ein gutes Gebet hilft, die Emotionen im Stadion mit etwas Abstand zu betrachten.
Gʼtt weiß alles. Das bedeutet für mich, dass ich mit Freude beten kann, weil ich ja mit jemandem spreche, der einfach auf alles Antworten hat. Durch meine Gebete erlange ich eine große Sicherheit: Wenn etwas gut für mich ist, werde ich es auf dem Gebetsweg erreichen. Und wenn nicht, wird G’tt mir einen klügeren Vorschlag machen, indem er mir, subtil oder ganz offensichtlich, einen anderen Weg ebnet.
Ich darf also für den Sieg meiner Mannschaft beten – aber wenn sie dann verliert, heißt das nicht, dass G’tt mich ignoriert. Er hat nur einen besseren Plan.
Positives schaffen
Jedoch sollte man nicht dafür beten, dass die gegnerische Mannschaft verliert. Im Judentum gibt es das Prinzip, dass wir mit unserer Sprache, mit unserem Mund, nur Positives schaffen dürfen. Das geht sogar so weit, dass wir keine Kerzen ausblasen, denn mit meinem Mund sollte ich kein Licht löschen, sondern es in die Welt bringen. Jemandem einen Schmerz oder Verlust zu wünschen, ist somit verboten.
Es ist auch nicht erlaubt, mit Geld darauf zu wetten, dass gerade das eigene Team gewinnt. Denn im negativen Umkehrschluss bedeutet dies, dass ich auf die Niederlage der anderen Mannschaft hoffe. Gemäß der Auslegung im Talmud (Sanhedrin 24b–25a) stellt so eine Art von Gewinn sogar Diebstahl dar, da der Wettverlierer sein Geld im Nachhinein nicht wirklich freiwillig dem Gewinner gibt. Er war zuvor fest davon überzeugt, dass seine Mannschaft gewinnen würde.
Den Fairplay-Gedanken gilt es also auch beim Beten und Wetten zu berücksichtigen. Der Gegner ist schließlich nicht ein bedrohlicher Feind, sondern der essenzielle Spielpartner. Er ermöglicht mir, in einen Raum zur Vertiefung sozialer Bindungen einzutauchen, auch trotz gegensätzlicher Vorlieben und Meinungen.
Die Europameisterschaft bringt Menschen unterschiedlicher Sichtbarkeit, Religionen, Werte, Wahrnehmungen und politischer Positionen zusammen. Schon im Jerusalemer Talmud heißt es, die Welt sei rund wie ein Ball (Traktat Avoda Zara, 3,1). Wir alle sind Teil des Spiels, und daher alle mit gefordert, unsere Einheit und den Zusammenhalt zu stärken.
Der Autor ist Rabbiner, Paar- und Familientherapeut und lebt in Jerusalem.