»Dann sollt ihr für euch ab dem Tag nach Schabbat selbst zählen, ab dem Tag, an dem ihr das Omer in Bewegung bringt. Sieben ganze Wochen soll das sein, bis zum Tag nach dem siebten Schabbat sollt ihr zählen, 50 Tage lang« (3. Buch Mose 23,15).
Im Talmud (Menachot 65b) werden die Eröffnungsworte dieses Verses wie folgt erklärt: »Und ihr werdet für euch selbst zählen – hier wird die Mehrheitsform angewendet. Dies erfolgt, um uns zu lehren, dass das Zählen durch jeden getrennt zu geschehen hat.«
Über die Art der Zählung sagte Abaje (Chagiga 17b): »Es sei eine Pflicht, die Tage zu zählen, es sei eine Pflicht, die Wochen zu zählen.« Deshalb sprechen wir zum Beispiel am 20. Tag des Omer: »Heute sind es 20 Tage, was zwei Wochen und sechs Tage bedeutet.«
Zeitraum Weshalb beauftragt uns die Tora, die Tage des Omer vom zweiten Sederabend bis kurz vor Schawuot zu zählen?
Der mittelalterliche Torakommentator Pa’anach Rasa gibt folgende Erklärung: »Der Zeitabschnitt zwischen Pessach und Schawuot ist die Erntezeit. Die meisten Menschen waren – bis zum Anfang des industriellen Zeitalters – draußen auf den Feldern bei der Arbeit und hatten mit dem Rest des Volkes keinen Kontakt mehr.
Würde Schawuot an ein Kalenderdatum gebunden sein, dann wäre man sich nicht vollkommen sicher über das Datum des Festes, da die hebräischen Monate 29 oder 30 Tage zählen, abhängig von der Entscheidung des Sanhedrins. Früher kannte man noch keinen festen Kalender. Für jeden Monat musste erneut entschieden werden, ob dieser 29 oder 30 Tage dauern sollte.
Die Menschen auf den Feldern würden somit nicht genau wissen, wann sie vor Schawuot zurück nach Hause müssten, da sie nicht genau wussten, wie lange die Monate Nissan und Ijar dauerten. Deshalb verknüpft die Tora Pessach mit Schawuot über die Zählung des Omer, sodass jeder, der nach Pessach von zu Hause weggegangen war und Omer zählte, genau wusste, wann er vom Feld zurückkehren musste, um pünktlich vor Schawuot zu Hause zu sein.
Die Omerzeit ist eine Erntezeit. Halten wir uns dies vor Augen, hilft uns das, einen Aspekt zu verstehen, in dem sich Schawuot von Pessach und Sukkot unterscheidet.
Erntezeit Die Omerzeit ist eine Erntezeit. Halten wir uns dies vor Augen, hilft uns das, einen Aspekt zu verstehen, in dem sich Schawuot von Pessach und Sukkot unterscheidet. Im Midrasch steht: »Rabbi Schimon sagte: ›Da Pessach und Sukkot nicht in einen Zeitraum landwirtschaftlicher Aktivitäten fallen, hatte die Tora vorgeschrieben, dass sie sieben oder acht Tage dauern sollten. Schawuot fiel jedoch in die Erntezeit. Daher ordnete die Tora an, dass es lediglich einen Tag dauert‹« (Sifre Re’e 15,15). Mit anderen Worten: Die Dauer von Schawuot wird den Umständen während der Ernte angepasst.
Laut dem Autor des Sefer HaChinuch ist der Grund für das Omerzählen einfach: »G’tt befreite uns aus Ägypten, damit wir Seine Tora empfangen. Die Tora ist der Grund für die Existenz des jüdischen Volkes. Bei der Zählung der Tage ab Pessach bis Schawuot zeigen wir, wie stark wir uns nach der Wiederbelebung der Toragesetzgebung sehnen.
Treue An Schawuot schwor das jüdische Volk dem Ewigen ewige Treue. Rabbi Chajim Ibn Atar (1696−1743) meint deshalb auch, dass das Fest der Gesetzgebung anstatt Schawuot (Wochenfest) eigentlich Schewuot (Fest der Zusagen, der Gelöbnisse) heißen müsste, denn G’tt und das jüdische Volk versprachen einander ewige Treue.
An Pessach haben wir Mazzot gegessen und vier Becher Wein getrunken, an Sukkot gibt es den Feststrauß (Lulav) und die Sukka − Schawuot kommt da hingegen etwas armselig weg. Während dieses kurzen Festes gelten keine besonderen Mizwot, die den spezifischen Charakter betonen. Dennoch haben sich im Laufe der Jahrhunderte viele Bräuche eingebürgert. Sie nehmen während der Omerzeit und an Schawuot den Platz ein, den an anderen Festtagen die besonderen Mizwot haben.
Bräuche Fast alle Bräuche haben einen tieferen, wenn nicht gar mystischen Hintergrund. Wir zeigen damit, dass wir nicht sklavenartig die von oben vorgegebenen Regeln befolgen, sondern in der Tradition leben und sie erweitern möchten.
Das Omerzählen ist, anders als zum Beispiel der Kidduschsegen, eine sehr persönliche Pflicht, die man nicht mit gutem Gewissen einem anderen überlassen kann. Das Zählen ist im Grunde als ein geistiges Wachstum durch die 49 Tore der Reinheit und Weisheit gedacht. Es betont die eigene Eingebundenheit, die ein jeder sich zumuten muss, wenn er spirituell erwachsen werden möchte.
Der Autor ist Oberrabbiner der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, Dajan beim Europäischen Beit Din und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).