Unsere Parascha betont die Feierlichkeit und bindende Kraft von Gelübden im Judentum. Und sie schreibt auch, wann ein Versprechen für nichtig erklärt werden kann. Der Ursprung für die Regelungen der Tora über Gelöbnisse ist die Anordnung, dass jeder verpflichtet ist, seine Aussage gegenüber anderen als verbindlich zu betrachten. Die leichtsinnige oder grundlose Verletzung eines Gelöbnisses wird als Missachtung G’ttes und Entehrung des Menschen betrachtet. In früheren Zeiten wurde ein Gelübde gewöhnlich in einer Zeit der Not abgelegt, in der Hoffnung auf g’ttliche Hilfe. Es konnte aber auch ein Ausdruck der Dankbarkeit für G’ttes Unterstützung sein.
In diesem Sinne lesen wir am Anfang dieser Parascha: »Wenn jemand dem Ewigen ein Gelübde tut oder einen Eid schwört, um dadurch seine Seele zu binden, soll er sein Wort nicht entheiligen. Alles, was aus seinem Munde gesprochen, soll er tun« (4. Buch Moses 30,3).
In der nachbiblischen Zeit stimmten unsere Weisen der Forderung der Tora zu, dass man bedingungslos zu seinem Wort stehen müsse, ganz gleich, ob es durch ein Gelübde bestärkt wurde oder nicht. Diese Haltung kommt ganz eindeutig in der Lehrmeinung zum Ausdruck: »Lass dein Ja ein Ja sein, und dein Nein soll auch ein Nein bleiben. Wer sein Wort bricht, ist so zu betrachten wie der, der Götzenbilder anbetet.«
Gelübde Der Götzendienst gehört nach Auffassung des Judentums zum schwersten Vergehen eines Menschen. Die Rabbinen sagten ferner, dass ein Gelübde, um volle Gültigkeit zu erlangen, laut und öffentlich abgelegt werden und selbstverständlich ohne äußeren Zwang erfüllt werden muss. Die gelobende Person muss sich der Tragweite und der möglichen Folgen des Gelübdes voll bewusst sein. Man kann sich durch ein Gelübde nur selbst Beschränkungen auferlegen, andere Personen können jedoch keinesfalls daran gebunden werden.
Ein Gelübde, das wegen der Einwirkung höherer Gewalt nicht erfüllt werden kann, ist als nichtig zu betrachten. Die Tora selbst befürwortet keineswegs das Ablegen von Gelübden. Wir lesen im fünften Buch Moses: »Und wenn du unterlassen würdest zu geloben, so wird an dir keine Sünde sein« (23,23). Außer der Tora empfehlen auch die Sprüche Salomons (Mischle): »Besser ist es, kein Gelübde zu tun, als zu geloben und nicht zu erfüllen.«
Viele jüdische Gelehrte der nachbiblischen Zeit teilten diese Meinung, so auch der bekannte jüdische Philosoph Philo von Alexandria (15/10 v.d.Z. – 40 n.d.Z.). Er schrieb: »Das Wort eines edlen Menschen soll wie ein Eid sein.«
Zur Zeit des Talmuds wurde die sich – trotz aller Ermahnungen der Gelehrten – ausbreitende Gewohnheit, Gelübde auf sich zu nehmen, als Kennzeichen einer schlechten Erziehung angesehen. Nur eine Ausnahme duldeten die meisten Gelehrten: ein Gelübde, das von schlechten Gewohnheiten befreite oder zu guten Taten verhalf.
Der Schulchan Aruch aber bleibt auch in solchen Fällen streng. Dort lesen wir, dass ein Gelübde, sei es auch für wohltätige Zwecke bestimmt, nicht erwünscht sei: Wenn jemand die notwendigen Mittel besitzt, um anderen zu helfen, so soll er diese Mittel ohne Umschweife zur Verfügung stellen. Wenn ihm aber die Mittel nicht zur Verfügung stehen, so soll er sein Gelübde aufschieben, bis sich seine Lage ändert.
mentalität Ich will nicht verschweigen, dass die Masse unseres Volkes nicht immer in der Lage war, zu der von den Gelehrten geforderten sittlichen Höhe emporzusteigen. Durch die orientalische Leidenschaftlichkeit konnte das Gelübde als ein Element der Volksfrömmigkeit fortbestehen.
Trotz der Ermahnung der Rabbinen, die es mit der Heiligkeit und Wahrhaftigkeit des ausgesprochenen Wortes sehr ernst nahmen, wurden die Gelübde zu einem schweren Problem. Des Öfteren kam es vor, dass ein Leichtsinniger oder Hitzkopf in Zeiten der Gefahr oder in einer augenblick-lichen Eingebung leichtfertig Versprechen machte, die er später nicht erfüllen konnte. Diese Gelübde brachten ihn in Widersprüche und störten seine Beziehungen zu den Nachbarn oder zu Familienmitgliedern.
In solchen Fällen betrachteten es die Rabbinen, die auch richterliche Funktionen innehatten, als ihre Pflicht, diesen Menschen zu ermöglichen, unter gewissen Bedingungen und Einschränkungen ihr leichtfertig abgegebenes und unerfüllbares Gelübde zu annullieren.
Eine Nichtigkeitserklärung konnte aber niemals durch den Gelobenden selbst erfolgen, sondern nur durch ein Beit Din. Das hatte zuvor die näheren Umstände des Gelübdes geprüft und sich davon überzeugt, dass ein Antrag auf Nichtigkeitserklärung weder aus eigennützigen Motiven gestellt wurde noch Rechte anderer verletzte.
Aber selbst dem rabbinischen Gerichtshof war es nicht möglich, alle Gelübde oder Eide für nichtig zu erklären. Solche, die einem anderen gegenüber abgelegt wurden, konnten – auch wenn dieser ein Nichtjude war – nur in dessen Gegenwart und mit seiner Zustimmung annulliert werden.
Die Nichtigkeitserklärungen der Rabbinen sollten aber nicht eine lockere sittliche Auffassung fördern, sondern im Gegenteil: Sie bekräftigten eine ethische Absicht, Menschen, die leichtfertig unerfüllbare Gelübde auf sich genommen hatten, vor der Schuld zu bewahren, diese Gelübde zu brechen. Außerdem sollten die Nichtigkeitserklärungen Ungerechtigkeiten ausschließen, die die Erfüllung der Gelübde anderen, oft Unbeteiligten, auferlegt hätten.
kol nidre Die bekannteste Formel für die Annullierung von Gelübden oder Eiden ist das Kol-Nidre-Gebet, das am Vorabend von Jom Kippur gesprochen wird. Dieser Teil der Liturgie bezieht sich auf solche Gelübde, die G’tt gegenüber leichtsinnig oder aber durch äußeren Druck, wie häufig der Zwang zur Taufe, geleistet wurden, oder aber deren Erfüllung unmöglich war. Hinter diesem Gebet steht die Absicht, am höchsten Feiertag des Jahres unser Verhältnis mit G’tt zu bereinigen.
Das Kol Nidre berührt allerdings keine Versprechungen oder Verpflichtungen, die ein Mensch dem anderen gegenüber eingegangen ist. Diese können, wie vorhin beschrieben, nur in gegenseitigem Einvernehmen der Parteien gelöst werden.
Die Erklärungen dieser Sachverhalte sind wichtig, weil im Laufe der Zeit viele Verleumder nie müde wurden zu betonen, dass ein Jude sein Wort, sein Versprechen oder sein Gelübde, das er gegenüber anderen, vor allem Nichtjuden, geleistet hat, zu jeder Zeit tilgen lassen könnte. Das Kol Nidre soll uns aber keineswegs ungerechte Vorteile sichern, sondern lediglich das Gewissen von gemarterten und gepeinigten Männern und Frauen erleichtern.
Der Autor war von 1981 bis 2002 Landesrabbiner von Württemberg.
Paraschat Matot
Der Wochenabschnitt Matot erzählt von Mosches letzter militärischer Unternehmung, dem Feldzug gegen die Midjaniter. Die Israeliten teilen die Beute auf und besiedeln das Land.
4. Buch Moses 30,2 – 32,42
Paraschat Mass’ej
»Reisen« ist die deutsche Übersetzung des Wochenabschnitts Mass’ej. Und so beginnt er auch mit einer Liste aller Stationen der Reise, durch die Wildnis von Ägypten bis zum Jordan. Mosche sagt den Israeliten, sie müssten die Bewohner des Landes vertreiben und ihre Götzenbilder zerstören.
4. Buch Moses 33,1 – 36,13