»Merkt auf, ihr Himmel, und ich will reden!« – der Text, der als letzte Parascha der Tora gelesen wird, beginnt mit einem Paukenschlag. Es ist die große Abschiedsrede von Mosche, und die Parascha endet mit Gottes Anweisung an Mosche, auf den Berg Newo zu steigen: »Du wirst das Land, das ich den Kindern Israels geben werde, sehen, aber du wirst es nicht betreten« – sondern hier sterben.
Die letzten beiden Kapitel der Tora werden nicht mehr am Schabbat gelesen, sondern an Simchat Tora: der große Segen Mosches für die Stämme Israels – so oft wiederholt, bis jeder und jede in der Synagoge zur Tora aufgerufen sein wird.
haftara Oft, wie auch in diesem Jahr, fällt die Lesung dieser Parascha zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur, und dann geht dieser Toraabschnitt ein bisschen unter, denn die Rede der Rabbiner beschäftigt sich dann mehr mit der Haftara, mit dem Aufruf zu Buße und Umkehr, wie es zu den Asseret Jemej Ha-Teschuwa, den Zehn Tagen der Umkehr zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur, passt.
Traditionellerweise war es sogar so, dass der Rabbiner nur an diesem Schabbat und am Schabbat vor Pessach eine Ansprache in der Synagoge hielt: vor Pessach, um eindringlich auf die Notwendigkeit des äußerlichen Putzens und Vorbereitens hinzuweisen, und vor Jom Kippur, um die letzte Chance zu Umkehr und zu Versöhnung anzumahnen.
Gedicht Auch wenn die Parascha Ha’asinu nicht ausdrücklich für die Zeit zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur geschrieben ist, passt sie doch sehr gut: ein großes Gedicht in 140 Versen, mit dem Mosche sein Lebenswerk noch einmal zusammenfasst und vor sich selbst, dem Volk und Gott Rechenschaft darüber ablegt – und man hört sowohl die Enttäuschung als auch das Erreichte in diesen Versen.
Mosche ruft, so erklärt es Raschi, Himmel und Erde als Zeugen gegen das Volk Israel auf. Er weiß, dass er selbst sterben wird, und wenn Israel sich gegen den Bund mit Gott wenden sollte, die Geschichte Gottes mit seinem Volk ein rasches Ende finden würde. Aber Himmel und Erde haben Bestand – und Regen und Ernte sind wesentlich für das Wohlergehen der Menschen. Diese Beständigkeit ist das Thema des ganzen ersten Abschnitts.
Einen der ersten Verse haben wir aus einem anderen Kontext gut im Ohr: Gott wird beschrieben als »Ha-Zur tamim poalo« – der Fels, dessen Tun vollkommen ist, und Seine Wege sind gerecht.
trost Wir zitieren diesen Vers bei der Lewaja, der Beerdigung, in der Hoffnung, dass der Verweis auf Gottes Gerechtigkeit Trost bringt, gerade auch, wenn wir fragen, warum das Leben eines geliebten Menschen schon zu Ende gehen musste.
Es scheint fast, als ob unsere Tradition in der Situation der Trauer die Frage nach Gottes Beständigkeit und Gerechtigkeit besonders scharf stellen möchte. Wenn ein alter Mensch nach einem erfüllten Leben stirbt, dann können diese Verse tröstlich sein, über das einzelne Leben hinausweisen, die Kürze und Vergänglichkeit des menschlichen Lebens in einen Zusammenhang mit Gott bringen.
Doch was ist, wenn jemand viel zu jung, nach Krankheit, Unfall oder Schlimmerem stirbt? Dann stellt sich die Frage umso schärfer: »Wenn Gott gerecht und vollkommen ist, wie kann es dann sein, dass Unglück und Leid in der Welt geschieht?«
Wie ein Mantra wiederholen die Verse des Ziduk Ha-din bei der Beerdigung die Vollkommenheit und Gerechtigkeit Gottes. Man könnte fast sagen: Mitten in die Erfahrung des Unglücks und Leids hinein haben wir zwar keine Antwort auf die Frage, aber indem wir an Gottes Vollkommenheit festhalten, gewinnen wir die Kraft, irgendwann einen Weg aus der Trauer heraus zu finden.
Freiheit Am Ende seines Lebens schaut Mosche zurück auf 40 Jahre Wanderung durch die Wüste, auf seine Leidenschaft, das Volk Israel nicht nur in die physische Freiheit zu führen, sondern in eine ganz neue, nie da gewesene Partnerschaft mit Gott, eine gegenseitige Verantwortung und Rechenschaftspflicht.
Immer wieder machte er die Erfahrung, dass die Kinder Israels es nicht ernst nehmen, dass sie aus dieser Beziehung ausbrechen – andere Götter haben vielleicht einfachere Antworten auf wesentliche Fragen. Die Bilder sind stark: Wie ein Adler, der seine Flügel ausbreitet, um seine Jungen zu beschützen, so schwebt Gott über Israel, wie eine Mutter, die einen Säugling stillt.
Am Ende des Liedes heißt es: »Wajechal Mosche le-daber« – Mosche vollendete seine Rede –, eine bewusste Anspielung, sagt der Midrasch, an die Schöpfung der Welt, wo es heißt: »Wajechal Elohim ba-jom ha-schwii« – Gott vollendete am siebten Tag sein Schöpfungswerk.
Mahnung So wie Mosche am Anfang Himmel und Erde als Zeugen aufruft, wird jetzt das Lied selbst zum Zeugen: Es soll aufgeschrieben und gelernt werden, als Erinnerung und Mahnung dienen, dass die Beziehung des Volkes Israel zu Gott kein Selbstläufer ist, sondern Engagement und Arbeit bedeutet.
Damit wird dieses Gedicht zu einem wichtigen Text, gerade auch im Blick auf Jom Kippur: So wie Mosche am Ende seines Lebens sich selbst und dem ganzen Volk Rechenschaft gibt, so sind auch wir aufgerufen, zurückzublicken und ehrlich Rechenschaft abzulegen über das vergangene Jahr und mehr.
Wo waren wir »verwurzelt« im Fels, sind unseren Prinzipien und Vorsätzen treu geblieben, waren verlässlich und haben Vertrauen nicht enttäuscht, haben unsere Beziehungen zu Familie, Freunden und anderen gut gestaltet – gerade auch in den vergangenen Monaten unter den durch Corona erschwerten Bedingungen?
versprechen Und wo haben wir enttäuscht, Versprechen gebrochen und uns nicht an unseren eigenen Maßstäben gemessen? Wo haben wir genährt und unterstützt, und wo sind wir ausgefallen und haben versagt?
»Cheschbon Nefesch« – uns Rechenschaft abzulegen, bedeutet auch, mit uns selbst realistisch zu sein: Vielleicht habe ich nicht aus bösem Willen, sondern weil ich wirklich nicht die Kraft dazu hatte, enttäuscht und meine eigenen Ziele nicht erreicht. Dann ist jetzt die Zeit, mich zu fragen: Was muss ich ändern – an meinem Leben und vielleicht auch an meinen Zielen, damit ich im Rückblick sagen kann, dass es gut war, und damit ich eine reale Chance habe, dass das kommende Jahr ein gutes wird.
Die Autorin ist Rabbinerin der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.
inhalt
Der Wochenabschnitt Ha’asinu gibt zu einem großen Teil das »Lied Mosches« wieder. Mosche trägt es dem Volk vor und weist darauf hin, wie wichtig es ist. Er fordert die Israeliten auf, sich an den Werdegang der Nation und an ihre Vorfahren zu erinnern, die den Bund mit Gott geschlossen haben. Das Lied erzählt von der Macht Gottes und wie sie sich in der Geschichte der Welt gezeigt hat. Es erinnert an das Gute, das der Ewige dem Volk Israel zuteilwerden ließ, aber auch an
die Widerspenstigkeit der Israeliten und die Bestrafung dafür. Gott spricht zu Mosche und fordert ihn auf, auf den Berg Newo zu kommen. Von dort soll er auf das Land Israel schauen – betreten aber darf er es nicht.
5. Buch Mose 32, 1–52